Zukunft ohne Mittelschicht
Alle vier Wochen ist es dasselbe: Wenn sich die Monatsmitte nähert, ist vom Einkommen des Elektroingenieurs Kais nahezu nichts mehr übrig. "Ich führe kein ausschweifendes Leben, gehe kaum in Restaurants", sagt Kais rechtfertigend, "nur einmal in der Woche treffe ich mich mit Freunden auf ein Bier."
Es sind die ganz alltäglichen Dinge, für die Kais sein Geld ausgibt: Lebensmittel, die Miete, Strom. Kais ist 29 Jahre alt, er hat in Deutschland studiert und gehört zu den vielen hochqualifizierten jungen Tunesiern, die vor zwei Jahren mit viel Elan und Hoffnung für ein neues Tunesien kämpften.
"Ich kam im Januar 2011 in meine Heimat zurück, weil ich dachte, dass es nun aufwärts geht", sagt der schlanke junge Mann. Er hat Feierabend und sitzt in einem kleinen Café an der Avenue de la Liberté in Tunis, direkt gegenüber liegt die Fath-Moschee. 650 Dinar, rund 325 Euro, verdient Kais im Monat, damit gehört er zum oberen Teil der tunesischen Mittelschicht.
Mit seinem Gehalt unterstützt er auch seine Familie, er lebt noch zu Hause. "An eine eigene Wohnung ist nicht zu denken", erklärt Kais. "Eine Hochzeit kann ich mir sowieso nicht leisten." Seine prekäre Lage ist Kais unangenehm, er möchte nicht fotografiert werden.
Dabei geht es vielen im Land wie Kais: Rund 47 Prozent aller Tunesier haben ihr Einkommen bereits in der Monatsmitte aufgebraucht, wie das Magazin "Tunisie numérique" im April meldete.
Am Rand der Mittelschicht
Es ist vor allem die Mittelschicht, die in Tunesien zunehmend in eine prekäre Lage gerät. Laut Informationen des tunesischen Verbraucherschutzes (ILEF) ist die Kaufkraft der mittelständischen Haushalte im vergangenen Jahr um 10,6 Prozent gesunken. Gründe dafür sind die steigende Inflationsrate, die im März 2013 bei 6,5 Prozent lag, und die wachsende Arbeitslosigkeit.
Rund 17 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung Tunesiens ist derzeit arbeitslos. Nur 13 Prozent der zur Mittelschicht gehörenden Haushalte haben mehr als zehn Dollar pro Tag zur Verfügung. Der überwiegende Teil der Mittelschicht muss mit einer Summe von zwei bis vier Dollar am Tag zurechtkommen – damit bewegen sich 43 Prozent der gesamten Bevölkerung Tunesiens am unteren Rand der Mittelschicht, der sogenannten floating class. Seit 2011 steigt der Anteil dieser unteren Schicht kontinuierlich, von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt bis unter die Armutsgrenze.
Jahrzehntelang war es gerade die Mittelschicht, die Tunesien eine gewisse wirtschaftliche Stabilität verschaffte: Noch Anfang 2011 machte diese Schicht 89 Prozent der Bevölkerung des nordafrikanischen Landes aus, damit stand Tunesien an der Spitze aller afrikanischen Länder.
Seit dem Beginn des Arabischen Frühlings, der im Januar 2011 zum Sturz des Diktators Ben Ali führte, sank der Anteil der Mittelschicht auf 69,5 Prozent. Der tunesische Ökonom Mouez Joudi hält es für möglich, dass die Mittelschicht bis Ende dieses Jahres unter die 50 Prozent-Marke fallen wird.
Das wäre fatal für die tunesische Wirtschaft, die angesichts des schwächelnden Tourismus und der hohen Staatsverschuldung sehr stark auf die Binnenwirtschaft und den privaten Konsum angewiesen ist.
Auch Kais hat Angst, dass sich seine Lage weiter verschlechtern wird. Verstärkt wird seine Sorge durch die politische Instabilität des Landes: "Die Regierung hält uns hin", sagt Kais. "Mal heißt es, die Preise werden gesenkt, mal sollen die Subventionen gestrichen werden. Es ist verwirrend und ermüdend."
Neue Unübersichtlichkeit
Tatsächlich ist die Nachrichtenlage unübersichtlich. Die tunesische Regierung einigte sich am 20. April mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) auf ein Strukturanpassungsprogramm in Höhe von rund 1,4 Milliarden Euro. Laut dem tunesischen "Nawaat" hat Tunesien umfangreiche Streichungen von Subventionen zugesagt, um das Darlehen des IWF zu erhalten.
Vor allem Grundnahrungsmittel wie Brot, Milch und Zucker werden in Tunesien subventioniert – eine Streichung dieser Subventionen würde die Bedrängnis der sowieso bereits schwächelnden Mittelschicht noch erhöhen. Nur wenige Tage vor der offiziellen Unterzeichnung des Abkommens mit dem IWF kündigte die Regierung jedoch drastische Preissenkungen an: So sollten unter anderem die Preise für Kartoffeln um über 40 Prozent gesenkt werden, Fleisch solle um bis zu neun Prozent günstiger werden.
"Ich weiß nicht, was ich glauben soll", sagt Kais kopfschüttelnd. Wie viele Tunesier glaubt auch er, dass es sich bei den angekündigten Preissenkungen um einen Versuch der regierenden "Ennahdha"-Partei handelt, die Gunst der Wähler mit kurzfristigen Versprechungen zurückzugewinnen.
Seit die islamistische Partei im Oktober 2011 in die Mehrheit des tunesischen Parlaments gewählt wurde, verliert sie kontinuierlich an Sympathie und Vertrauen in der Bevölkerung.
In diesem Oktober sollen Wahlen stattfinden – ob die "Ennahdha" mit kurzfristigen Preissenkungen tatsächlich rechtzeitig die Wähler wieder auf ihre Seite ziehen kann, ist mehr als fraglich. Denn selbst wenn die Senkungen der Preise trotz der Vereinbarung mit dem IWF durchgesetzt werden, leiden Teile der Wirtschaft: Auf die Produzenten jener Güter, die billiger werden sollen und deren Zulieferer kämen erhöhte Kosten zu, erneut wären Arbeitsplätze in Gefahr. Die Spirale dreht sich also weiter.
Profiteure der Krise
Die wirtschaftliche Misere verschärft derweil die politische Krise Tunesiens: Die zunehmende Verarmung und Sorge in der Bevölkerung machen sich die Salafisten zunutze, die immer aktiver im Land werden.
Vor allem in ärmeren Stadtvierteln lassen sie sich nieder, um den Menschen eine Alternative zu bieten – vor allem für junge Männer stellen die Geschäftsideen der religiösen Extremisten eine Alternative zur desolaten Lage auf dem Arbeitsmarkt dar. Vor den Moscheen der größeren Städte reiht sich ein Stand, an dem Gebetsteppiche, Duftöle, und traditionelle Gewänder verkauft werden, an den nächsten.
Der informelle Arbeitsmarkt wächst, während Regierung und Opposition um Auswege aus der Krise suchen. Kais hat die Hoffnung auf eine Besserung der Situation mittlerweile aufgegeben: "Ich habe mich gerade auf einige Stellen in Deutschland beworben. Meine Familie und ich haben mehr davon, wenn ich dort arbeite und Geld nach Hause schicke."
Kais blickt nachdenklich auf den vollen Platz vor der Fath-Moschee, wo die religiösen Händler ihre Waren anbieten. Dann lächelt er bitter und fügt hinzu: "So kommen wenigstens ein paar Devisen ins Land."
Katharina Pfannkuch
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de