Die Geister, die sie riefen
Als David Cameron im April in Pakistan bei einem Staatsbesuch zum Kaschmirkonflikt interviewt wurde, bemerkte er, dass "Großbritannien für viele der weltweiten Probleme verantwortlich ist."
Cameron hat recht. Tatsächlich spinnt sich durch alle notorischen Konflikte der Welt, so verschieden sie in Ursache, Verlauf und Akteuren auch sein mögen, ein roter Faden. Egal ob Kaschmir, Nahost, Nordafrika, Iran, Irak oder Hindukusch: All diese Regionen sind über kurze oder längere Zeiträume kolonialisiert oder als Spielball kurzsichtiger westlicher Interessen benutzt worden.
Das gilt ganz besonders für Afghanistan und Pakistan, von wo man seit Beginn des "Krieges gegen den Terror" vor zehn Jahren nur noch Negativschlagzeilen gewohnt ist. Die Bilanz von zehn Jahren Kampfeinsatz ist angesichts der vielen Tausend Opfer unter Zivilisten und Soldaten gelinde gesagt bescheiden. In Afghanistan sind die Taliban weder besiegt, noch hat sich die prekäre Sicherheitslage verbessert, Wiederaufbau und Demokratisierung sind weitestgehend Illusionen geblieben.
Beispiellose Destabilisierung
Das benachbarte Pakistan hat in den letzten Jahren eine beispiellose Destabilisierung durchgemacht. Große Teile des Landes wurden zum Operationsgebiet der Taliban, sektiererische und radikale Kräfte haben an Einfluss gewonnen, ethnische und soziale Konflikte haben sich verschärft.
Im Fokus des Antiterrorkampfes stehen für Amerika und die NATO-Länder die Stammesgebiete im Nordwesten Pakistans. Hier befindet sich das fragile Herzland der Paschtunen, zugleich Heimat und Rückzugsraum der Taliban. Dementsprechend oft wird die Region von US-Drohnen angegriffen, zuletzt im August. Bei den Einsätzen gibt es häufig zivile Opfer, der Ruf der Amerikaner bei den Pakistanis hat sich kontinuierlich verschlechtert.
Ein Grund für die Misere der gebeutelten Provinz ist ein Grenzstreit, der bis heute ungelöst ist. Das Problem geht auf die Zeit der anglo-afghanischen Kriege des 19. Jahrhunderts zurück, in denen Großbritannien versuchte, seinen Einflussbereich von Britisch-Indien auf die Paschtunengebiete auszuweiten.
Als eine militärische Invasion aussichtslos schien, spielten die Briten ihr koloniales "Teile und herrsche"-Spiel und sorgten für die Zersplitterung Paschtunistans in beeinflussbare Provinzen. Sie setzten wohl gesonnene Herrscher ein und schufen im Jahr 1893 die "Durand-Linie", welche Britisch-Indien von afghanischem Herrschaftsgebiet abgrenzen sollte.
Die Durand-Linie stellt noch heute die pakistanisch-afghanische Grenze dar und verläuft mitten durch Stammesgebiete, durchtrennt Dörfer. Sie wird von den Einheimischen praktisch nicht beachtet, Drogen- und Waffenschmuggel beherrschen das Gelände und bis dato hat Afghanistan seine Grenze zu Pakistan nicht anerkannt. Die Paschtunen wurden bei der Grenzziehung ähnlich wie die Kurden im Nahen Osten vollkommen ignoriert und fühlen sich von der Geschichte ausgegrenzt. Im Anti-Terror-Kampf sind sie als ganzes Volk stigmatisiert worden.
Kampf um Land mithilfe der Religion
All das verschafft den Extremisten Rückhalt in der Bevölkerung und macht es für sie leichter, neue Kämpfer zu rekrutieren. Ihr Kampf ist auch ein Kampf um Land mithilfe der Religion. Doch auch die Kämpfer von Taliban und Al-Qaida haben ihren Platz in der Geschichte – diesmal brauchen wir das Rad gar nicht so weit zurückzudrehen.
Als sich Präsident Bush nach 9/11 mit dem eben an die Macht geputschten General Musharraf verbündete, war das für Pakistan wie ein Déjà-vu. Bush versprach Musharraf jährlich drei Milliarden Dollar für seinen Hausmeisterjob in der Region, Musharraf wurde für die Pakistanis zu "Busharraf".
Schon einmal hatte es ein ähnliches Bündnis gegeben, in dem die Amerikaner mit Pakistans Militärs paktierten. Das war in den achtziger Jahren, als der Kalte Krieg auf Hochtouren lief und die Sowjetunion ihren Einfluss auf Afghanistan ausweitete. Die Sowjets marschierten in Afghanistan ein, um das damalige kommunistische afghanische Regime zu stützen. Für den Widerstand gegen die Besatzer formierten sich die Mudschahedin, lose und in sich zerstrittene Allianzen, die zur Befreiung Afghanistans von den "gottlosen Sowjets" zusammenfanden.
Die Mudschahedin wurden in den Stammesgebieten in Camps und Madrasas für den heiligen Krieg ausgebildet. Sie entstanden unter der Federführung des Militärgenerals Zia ul-Haq, der 1977 durch einen Militärputsch in Pakistan an die Macht kam. Zia verfolgte seinen Traum von einer totalen Islamisierung Pakistans mit eiserner Härte. Seinen zivilen Vorgänger, den Präsidenten Zulfikar Ali Bhutto, ließ er hinrichten und führte öffentliches Auspeitschen als Strafe ein.
Explosive Saat
Für die USA unter Reagan war Zia ein willkommener Partner und die Mudschahedin erfolgversprechende Handlanger, um die Sowjets zurückzudrängen. Zusammen mit Saudi-Arabien ließen die Vereinigten Staaten Zia Milliarden zukommen und halfen so, die Mudschahedin logistisch und ideologisch auszurüsten.
Unter ihnen auch ein bekannter Name: Osama bin Laden stieg Mitte der achtziger Jahre mit einer Gruppe arabischer Kämpfer in den Dschihad am Hindukusch ein. Damals noch in den Kinderschuhen, wurde aus dieser Truppe später das globale Terrornetzwerk Al-Qaida.
Als die Sowjets besiegt waren und der Krieg ein Ende nahm, verloren die Vereinigten Staaten das Interesse an Afghanistan. Der Samen für Taliban und Al-Qaida, die großen Plagegeister des Amerikas von heute, war gesät worden. Afghanistan zerfiel in einen Bürgerkrieg, aus denen die Taliban als stärkste Kraft hervorgingen, um dann 1996 die Macht im Land zu übernehmen.
Für die Afghanen brach eine archaische Zeit an, doch erstmals seit Jahrzehnten bedeuteten die Taliban auch Stabilität und Ordnung, wenn auch eine brutale. Nach dem 11. September 2001 begannen die USA mit ihren Verbündeten aus Europa in Afghanistan den Kampf gegen die Geister, die sie einst riefen.
Auch Pakistans explosive Saat ist in den letzten Jahren aufgegangen. Wo vor Zia etwa 1.000 extrem orientierte Madrasas operierten, stehen heute über 10.000. Es sind die Auswüchse von Zias islamistischem Erbe, die Pakistans Zusammenhalt jetzt empfindlich bedrohen.
David Cameron wurde für sein Eingeständnis der kolonialen Verantwortung aus der Heimat scharf kritisiert. Der Daily Telegraph kommentierte: "Wenn wir etwas von unserem Premierminister erwarten dürfen wenn er auf Auslandsbesuch ist, dann dass er nicht sein eigenes Land schlechtmachen sollte (…)."
Dabei waren Camerons Worte nur ein vorsichtiger Schritt in Richtung einer selbstkritischen historischen Analyse des Westens, der auch den Vereinigten Staaten unter Obama mehr als gut stehen würde.
"Das Ignorieren der imperialen Geschichte lizenziert eine Wiederholung", schrieb der linke Kommentator des Guardian, Seumas Milne, im April und deutete dabei auf den NATO-Einsatz in Libyen. Ob Afghanistan und Pakistan nach Rückzug des Westens aus der Region in den nächsten Jahren erneut als Spielball seines eigennützigen Handelns in die Geschichte eingehen werden, bleibt noch zu beurteilen.
Marian Brehmer
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de