Pakistan und der Preis des Friedens
Am 16. Februar hat die pakistanische Regierung den Taliban im Rahmen einer Friedensvereinbarung gestattet, im Swat-Tal ihre eigene Version der Scharia als Rechtsgrundlage einzuführen. Tags darauf staute sich der Verkehr auf dem Green Chowk, einem Platz in Mingora, der wichtigsten Stadt der Region. Seit einiger Zeit nennen ihn die Leute freilich Khooni Chowk, "Blutplatz": Hier pflegten die Taliban die Opfer ihrer mörderischen Strafaktionen auszustellen. "Schauen Sie..." Ein Ladenbesitzer deutet auf einen anderen Zivilisten, der den Verkehr zu dirigieren versucht.
"Das wollen wir eigentlich – rausgehen und arbeiten. Schafft die Sicherheitskräfte weg, schafft die Taliban weg, dann können wir wieder leben wie zuvor." Aber wie viele Pakistaner glaubt er, dass der Deal mit den Taliban die einzige Möglichkeit war, dem Auftauchen zerfetzter Leichname auf dem Khooni Chowk ein Ende zu setzen. Mingora ist nicht finsterste Provinz, kein Teil jenes pakistanischen Wilden Westens, den westliche Medien bei der Berichterstattung über die Taliban so gern beschwören.
Es ist eine Stadt, die vor Energie und Ambition aus den Nähten platzt; es gibt Hochschulen für Rechtswissenschaft und Medizin, eine Fachschule für Pflegepersonal, Privatschulen, die auf Englisch unterrichten; es gibt sogar ein Museum für Regionalkultur. Aber am Tag, an dem der Frieden kam, verschwanden die Frauen. Von den Strassen, aus den Büros, sogar aus dem grossen Basar, wo nur Familien zugelassen sind und nichts Schlimmeres verkauft wird als bunte Stoffe, Taschen, Schuhe und Accessoires. Auch die Musik verstummte.
Alle vierhundert Musikhandlungen blieben geschlossen. Ein Ladenbesitzer hat sein Geschäft in ein Kebablokal umfunktioniert und versucht, mit dem neuen Grill zu Rande zu kommen. "Das ist Scharia", faucht er das widerspenstige Gerät an, das mehr Rauch als Feuer produziert. Der Barbier gegenüber hat das obligate Schild gehisst: "Keine unislamischen Haarschnitte, keine Bartrasur." Dies, bedeutet man mir, ist der Preis des Friedens.
Vogel-Strauß-Politik
In meiner Heimatstadt im Punjab konnte ein befreundeter Geschäftsmann seine Begeisterung über die jüngsten Entwicklungen kaum zurückhalten. "Wenn zweihundert Taliban die Stadt übernähmen, könnten wir endlich selbst unsere Entscheide fällen. Wer braucht überhaupt dieses korrupte Regierungssystem." Dieser Freund ist ein typischer konservativer Pakistaner der Mittelklasse, und im ganzen Land sind in der städtischen Bevölkerung ähnliche Stimmen zu vernehmen.
Ich versuchte nachzuhaken. "Du bringst deine Töchter jeden Morgen zur Schule, in deinem Auto läuft immer Musik. Wenn die Taliban an der Macht sind, ist es vorbei damit." Er zauderte einen Moment und fuhr dann die Erklärung auf, mit der sich die meisten bessergestellten Pakistaner zu beruhigen versuchen. "Was sie in Swat anstellen, entspricht ihrer paschtunischen Kultur", sagte er. "Aber der Islam schreibt Bildung für Männer und Frauen vor. Und wir Punjabis haben ja auch eine andere Kultur."
Die gleiche naive Behauptung habe ich in Fernsehshows gehört und in Editorials gelesen: Die Ideologie der Taliban ist ganz in Ordnung, nur ihre Methoden sind nicht stubenrein. Irgendwie hält sich die Hoffnung, dass die Taliban, wenn sie erst einmal in Lahore oder Islamabad einmarschieren, mit einem Schlag realisieren, dass der Islam eine Religion des Friedens ist, in der es keinen Zwang zum Glauben gibt. Wer unter den Taliban gelebt hat, gibt sich keinen solchen Illusionen hin. Als sie die Macht im Swat-Tal übernahmen, organisierten sie einen Friedensmarsch. Tausende Männer mit schwarzem Turban und islamisch korrekter Barttracht stampften durch die Strassen Mingoras.
"Da war nicht ein bekanntes Gesicht darunter", erinnert sich ein Lehrer. "Ich sass mit meiner Familie zu Hause und zitterte vor Angst." Dann zögert er und vergewissert sich, dass mein Tonbandgerät ausgeschaltet ist, als sei er im Begriff, eine Blasphemie zu äussern: "Ich fühlte mich wie einer von den nichtmuslimischen Bürgern Mekkas am Tag, da Mohammed mit seinem Heer einmarschierte. Und dabei bin ich praktizierender Muslim." Was die Taliban ins Swat-Tal bringen wollen, ist nicht paschtunische Kultur. Sie wollen in die Frühzeit des Islam zurück – eine Zeit, in der es selbstverständlich weder englische Schulen noch Colleges für Mädchen noch Musikläden gab.
Gefangene im eigenen Haus
Auf den Frauen des Swat-Tals lasten Furcht und Resignation noch schwerer. Die Taliban haben Mädchenschulen in die Luft gesprengt und die von Kugeln durchsiebten Leiber von Tänzerinnen auf dem Khooni Chowk deponiert. Hinter verschlossenen Türen, unter den neu gekauften Burkas hervor, durch drei Schleier hindurch und immer unter dem Siegel der Anonymität haben mir die Frauen ihre Geschichten erzählt. "Die Männer werden unter den Taliban weiterhin zur Schule und zur Arbeit gehen können,
wenn sie sich an die Gesetze halten, aber wir sind Gefangene in unseren eigenen Häusern geworden. Wir können nicht einmal Essen einkaufen gehen. Für uns ist alles vorbei", hiess es wieder und wieder. In den letzten zwei Jahren hat die pakistanische Zivilgesellschaft einen Militärdiktator aus dem Amt gejagt und danach eine gewählte Regierung gezwungen, den von Musharraf relegierten Gerichtspräsidenten Iftikhar Chaudhry und die Richter des Obersten Gerichts wieder einzusetzen. Aber wenn es um die Taliban geht, spricht die Bevölkerung nicht mit einer Stimme.
Gewiss, Tausende sind zu Protestveranstaltungen gegen die Fundamentalisten geströmt, im Internet äussern sich die Taliban-Gegner in zahllosen Facebook-Gruppen. Aber im Innersten wissen die Menschen, dass man durch das Signieren einer Online-Petition oder das Hochhalten eines Transparents die Taliban nicht dazu bringen wird, ihre Waffen niederzulegen und wieder friedlich ihrem einstigen Beruf nachzugehen. Man hoffte zunächst, dass die Sicherheitskräfte es mit den Taliban aufnehmen würden; aber Armee und Geheimdienst scheinen solide im konservativen Lager verwurzelt zu sein.
Wenn sie nicht, wie ihnen von manchen Beobachtern nachgesagt wird, direkt mit den Taliban kollaborieren, dann pflegen sie auf alle Fälle ein ganz aussergewöhnliches Mass an Neutralität. Sie vermieten einerseits ihre Luftwaffenstützpunkte an die USA, damit diese von dort unbemannte Drohnen auf pakistanisches Gebiet schicken können, anderseits kondolieren sie dann den Opfern dieser amerikanischen Angriffe. In Swat habe ich Dutzende Varianten derselben Geschichte gehört: Vor dem Friedensabkommen mit den Taliban hielten die Soldaten die Leute auf der Strasse an und sagten: Geht nicht dort durch, die Taliban schneiden gerade einem die Kehle durch. Aber nie kam es ihnen in den Sinn, gegen das grausige Tun einzuschreiten.
Die Amerikaner predigen uns, dass wir Widerstand gegen die Taliban leisten müssen, und lassen es derweil zu, dass ihre Drohnen bei der ferngelenkten Hatz auf Taliban-Führer und Exponenten der Kaida auch pakistanische Zivilisten töten. Kein Pakistaner, stehe er nun rechts oder links, befürwortet diese Angriffe oder die Art, wie sie durchgeführt werden. Wenn sowohl die Amerikaner als auch die Taliban nur Verachtung für uns übrig haben, was sollen wir dann tun? Was effektiv getan wird, sieht man in den Strassen von Lahore. Bei einem Hotel, das immer als besonders sicher galt, stehen Wachleute vor jedem Eingang. Wachleute sind in Pakistan nichts Ungewöhnliches, aber diese halten die Waffe gezückt.
Als ich einen von ihnen darauf anspreche, meint er achselzuckend, das sei Befehl. Aber wie er die Hotelgäste gegen einen Trupp mit Raketenwerfern, eine Wagenladung Sprengstoff oder gegen eine Ideologie verteidigen will, die uns den Sittenkodex von Mekka im Jahre 570 aufoktroyieren möchte – das weiss derzeit noch niemand.
Mohammad Hanif
© Neue Zürcher Zeitung 2009
Mohammed Hanif wurde 1965 in Okara (Pakistan) geboren. Er war Pilot der pakistanischen Luftwaffe, bevor er Journalist und Publizist wurde. Heute lebt er in London und leitet die Urdu-Redaktion der BBC. Sein Roman "A Case of Exploding Mangos" ist auch auf Deutsch im im A1-Verlag erschienen.