In jedem steckt ein Barbar

Tzvetan Todorov war kein typischer französischer Fernsehphilosoph, der dem Präsidenten tagespolitische Ideen einflüstert. "Die Bombardierung Libyens" hätte er bestimmt nicht gefordert, so wie es Bernard-Henri Lévy 2011 tat. Todorov war ein Mann der leisen Töne. Anfang des Jahres ist er gestorben. Stefan Buchen erklärt, warum er eine wichtige Stimme unserer Zeit war und bleiben wird.

Von Stefan Buchen

Manchmal verschwindet ein Mensch nahezu unbemerkt. Ein Gefühl der Leere kann gar nicht aufkommen, weil man sich seiner Bedeutung nicht bewusst ist, und damit auch nicht der Bedeutung des Verlustes. Die Nichtbeachtung seines Verschwindens verrät dann möglicherweise etwas über jene unaufmerksamen Anderen, die noch da sind.

Als Tzvetan Todorov am 7. Februar im Alter von 77 Jahren in Paris stirbt, erfüllt das deutsche Feuilleton seine Chronistenpflicht. Er sei ein französischer Literaturwissenschaftler bulgarischer Herkunft gewesen. Ein mehr oder weniger willkürlicher Bruchteil seiner mehr als vierzig Werke wird aufgezählt. Vielleicht kommt noch der abschließende Hinweis, dass Todorovs Interessen vielfältig gewesen seien. Das war's.

Über Tzvetan Todorov ist gewiss mehr zu sagen. Tiefgründig und originell wie kein Zweiter vermaß er das Spannungsfeld menschlicher Existenz zwischen den Polen Respekt und Hass, Koexistenz und Vernichtung. Der Zeitraum seiner Forschungen erstreckt sich von der "Entdeckung" Amerikas bis zu den Mordtaten, die junge Männer unter Berufung auf den "Islamischen Staat" 2015 in Paris begingen.

"Wie verträgst Du Dich mit dem Anderen?"

In den letzten Jahren sah der Denker die Menschheit auf eine harte ethische Probe zulaufen, die sie unbedingt bestehen muss, wenn sie als Zivilisation weiterexistieren will. In der globalisierten Welt spitze sich die alte Frage: "Wie verträgst Du Dich mit dem Anderen?" zu. Mit anderen Gelehrten teilte Todorov die Sorge vor der Selbstvernichtung des Menschen.

Buchcover "Die Angst vor den Barbaren. Kulturelle Vielfalt versus Kampf der Kulturen" von Tzvetan Todorov; Quelle: Hamburger Edition
Tiefgründig und originell wie kein Zweiter vermaß Tzvetan Todorov das Spannungsfeld menschlicher Existenz zwischen den Polen Respekt und Hass, Koexistenz und Vernichtung. Über 25 Jahre lang war er Forschungsdirektor am Centre national de la recherche scientifique (CNRS) in Paris. Seine Veröffentlichungen erhielten zahlreiche internationale Auszeichnungen, etwa den Prinz-von-Asturien-Preis für Sozialwissenschaften. Auf Deutsch sind von ihm "Die verhinderte Weltmacht. Reflexionen eines Europäers" und "Die Angst vor den Barbaren. Kulturelle Vielfalt versus Kampf der Kulturen" erschienen.

Todorovs Untersuchungen der russischen Literatur und seine literaturtheoretischen Arbeiten verdienen eine eigene Würdigung. Hier soll es um den Zeitkritiker, Kulturwissenschaftler und Historiker gehen. Wie, warum und wann bilden wir uns eine Idee vom Anderen? Welche Bilder vom Anderen entstehen mit welchen Folgen? Todorovs Gedanken kreisten um die Fragen, die vom Aufeinandertreffen der Kulturen aufgeworfen werden. Ein Dialogportal mit der islamischen Welt namens "Qantara" wäre ideengeschichtlich ohne Todorov gar nicht zu denken.

Islamkunde hatte er nicht studiert. Aber aus sachlichen Gründen hat "der Islam" in Todorovs einzigartiger Studie aus dem Jahr 1982 "La conquête de l´Amérique: la question de l´autre" ("Die Eroberung Amerikas. Die Frage des Anderen") eine erstaunliche Hintergrundpräsenz. Anhand der historischen Quellen zeichnet der Wissenschaftler die Begegnung zwischen Spaniern und Ureinwohnern, vor allem den Azteken, nach. Diese Begegnung endete bekanntlich im Untergang des aztekischen Staates, in der Dezimierung von schätzungsweise 90 Prozent des Staatsvolkes und in der Zwangschristianisierung der Überlebenden.

Im Zentrum von Todorovs Analyse steht die Fähigkeit der spanischen Eroberer, allen voran Hernan Cortés, die Kultur des Anderen als grundsätzlich "anders" zu erkennen und zu verstehen und dieses Verständnis zum eigenen Kriegsvorteil zu nutzen. Als Beispiel sei hier nur genannt, dass Cortés den Verdacht des aztekischen Herrschers Moctezuma, bei ihm, Cortés, könne es sich um einen Gesandten der Gottheit Quetzalcoatl handeln, bewusst bestärkt habe. Dies habe den Widerstand der Azteken gelähmt. 

Während die Azteken also "verunsichert" waren, bauten die Spanier, so Todorov, in ihrer Auseinandersetzung mit dem kulturell anderen Gegner auf den Erfahrungen der Reconquista, also der erfolgreichen Rückeroberung Andalusiens von den Muslimen, auf. Für die spanischen Eroberer in Mexiko seien die Azteken die neuen Muslime (bzw. Juden) gewesen, die entweder geschlagen, vertrieben oder zum Christentum bekehrt werden mussten.

Die Tempel der Azteken wurden von den Spaniern "Mezquitas" (Moscheen) genannt. Die Inquisition überprüfte in "Neuspanien" die Aufrichtigkeit, mit der die frisch Unterworfenen ihrem alten Glauben abgeschworen hatten. Sie konnte sich dabei an dem Vorbild orientieren, das die Inquisitoren auf dem alten Kontinent bei der Gewissensüberprüfung ehemaliger Muslime und Juden geliefert hatten.

Jerusalem im Blick

Kolumbus war bekanntlich nicht in See gestochen, um "Amerika zu entdecken" (er wusste bis zu seinem Tod nicht, dass er einen neuen Kontinent entdeckt hatte). Er hatte eine neue Seeroute nach Ostasien finden wollen. Tzvetan Todorov arbeitet heraus, dass der Seefahrer in Diensten der katholischen Könige dabei auch "Jerusalem" im Blick hatte. Kolumbus habe auf seiner Fahrt Gold und andere Reichtümer sammeln wollen, um damit einen neuen Feldzug zur Befreiung Jerusalems aus der Hand der Muslime zu finanzieren, also quasi einen neuen Kreuzzug. Wir lernen folglich von Todorov, dass der Islam als Gegner und Folie für den Anderen in den Köpfen der spanischen Amerikaeroberer herumspukte.

Todorov zeigt, dass die spanische Elite über den richtigen Umgang mit den "Indianern" kontrovers diskutierte. Ein wichtiges Argument für rücksichtslose Kriegführung und die Auslöschung der aztekischen Kultur sei gewesen, dass die Azteken die barbarische Praxis des rituellen Menschenopfers pflegten.

Eindrucksvoll legt Todorov hier die Ursprünge der Legitimationsstrategien europäischer Kolonialherrschaft offen. "Wir" sind die Vertreter einer höheren universellen Kultur. Bei der spanischen Eroberung Amerikas war es das Christentum. Später waren es wahlweise die Menschenrechte, Theorien der rassischen Überlegenheit oder der technisch-zivilisatorische Vorsprung. Insofern lässt sich eine gedankliche Linie ziehen von den Begründungen für die spanischen Herrschaftsansprüche in Mexiko bis zu heutigen Rechtfertigungen für militärische Interventionen im Namen universeller Werte.

Die Beseitigung Saddam Husseins und Muammar al-Gaddafis ist "gut", weil diese Tyrannen sind, die Oppositionelle abschlachten. Krieg gegen die Taliban ist "gerecht", weil diese Frauen unterdrücken. Eine Bombardierung Irans könnte "richtig" sein, weil das dortige Regime Homosexuelle an Kränen aufhängt.

Das Werk Todorovs schärft das Bewusstsein für solche historischen Linien. Dabei ist er alles andere als ein Gegner universeller Werte. Er war einer der besten Kenner und glühendsten Verfechter der europäischen Aufklärung. Er hob nur stets hervor, dass die Menschenrechte einer anderen Kultur nicht mit Gewalt aufgezwungen werden können. Das gelte auch für die Herrschaftsform der Demokratie. Diese hielt Todorov für die beste. Deswegen war er ja aus dem kommunistisch regierten Bulgarien Anfang der sechziger Jahre nach Frankreich emigriert.

"Nationale Homogenität" als Illusion

In jüngerer Zeit sah Todorov die westliche Demokratie zunehmend in Gefahr, nicht wegen Bedrohungen von außen, sondern weil sie aus sich selbst heraus ihre eigenen "intimen Feinde" heranzüchtet. Damit meinte er die beiden sehr verschiedenen Kategorien der "Desasterkapitalisten" und der Fremdenfeinde. Schon vor zehn Jahren warnte Todorov davor, dass fremdenfeindliche Parteien sich in ganz Europa breit machen. Die rhetorischen Parallelen zwischen französischen Rassisten des 19. Jahrhunderts und dem Front National von heute lagen für ihn auf der Hand.

FN-Anhänger in Lyon; Foto: Reuters
Rechtsextremisten und Nationalisten europaweit auf dem Vormarsch: Schon vor zehn Jahren warnte Todorov davor, dass fremdenfeindliche Parteien sich in ganz Europa breit machen. Die rhetorischen Parallelen zwischen französischen Rassisten des 19. Jahrhunderts und dem Front National von heute lagen für ihn auf der Hand.

Die routinemäßigen Attacken gegen den "Multikulturalismus", die man selbst in etablierten Parteien und in den Mainstream-Medien hört, hielt er für schädlich. Dies begründete er philosophisch. "Nationale Homogenität" sei eine Illusion. Dem Begriff liege die absurde Vorstellung gesellschaftlicher Starre zugrunde. Gesellschaft sei ein dynamischer Prozess. Kulturen veränderten sich und könnten durch Begegnung und Dialog auch ganz neue schaffen.

"Der Andere" sei "zu entdecken", nicht zu erobern und zu vernichten. Wichtig sei für den Menschen, dass er überhaupt eine Kultur habe. Die brauche er quasi als Ersatz für die rein instinktgeleitete Verhaltensdetermination, die Homo Sapiens beim Erklimmen seiner Evolutionsstufe verloren habe. Die Pluralität der Kulturen sei ein Segen, weil im Dialog die Chance der Bildung und Stärkung liege. Statt nach der Zwangsbeglückung der Anderen zu streben, müsse der Mensch sich im Klaren darüber sein, dass in jedem ein Barbar stecke.

Sich abzuschotten mit dem Ziel, mit anderen Kulturen nichts zu tun zu haben, bezeichnete Todorov als "eine neue Form der Barbarei". Das Barbarische hielt er überhaupt für einen hilfreichen Begriff. Er umfasse alles, was menschliche Zivilisation unmöglich macht. Dazu zählte er den Terrorismus genauso wie die Folter, deren Wiedereinführung durch die amerikanische Regierung unter George W. Bush er als alarmierendes Zeichen wertete.

Nihilismus und "Déculturation"

Nach dem 11. September 2001 wandte sich Todorov gegen all jene, die den Terrorismus aus dem Islam heraus erklären wollten. Das Motiv für Gewalttäter sei nicht der Glaube an ein religiöses Wertesystem, sondern die Rache für erlittene Demütigungen und Nihilismus.

Trauer um die Opfer der Anschläge von Paris vom 13. November 2015; Foto: Getty Images/AFP
Triebfedern der Gewalt: Was die Attentäter von Paris ausmache, sei nicht die Zugehörigkeit zu einer extremistischen Kultur, sondern ihre Nichtzugehörigkeit zu irgendeiner Kultur, so Todorovs Einschätzung. Sie seien sozusagen "kulturlos". "Déculturation" nennt Todorov das Phänomen, das unter Jugendlichen der europäischen Einwanderungsgesellschaften um sich greife und das man gründlich verstehen müsse, um es zu bekämpfen.

Was die Attentäter von Paris ausmache, sei nicht die Zugehörigkeit zu einer extremistischen Kultur, sondern ihre Nichtzugehörigkeit zu irgendeiner Kultur. Sie seien sozusagen "kulturlos". "Déculturation" nennt Todorov das Phänomen, das unter Jugendlichen der europäischen Einwanderungsgesellschaften um sich greife und das man gründlich verstehen müsse, um es zu bekämpfen. "Den Krieg gegen den Terrorismus" hielt Todorov in Begriff und Substanz für eine intellektuelle Zumutung. 

Todorov hat viel darüber geschrieben, wie europäischer Ethnozentrismus, Rassismus, Nationalismus, Faschismus und Stalinismus die Ideen der Aufklärung und der Toleranz verraten haben. Neuer Spuk, angereichert mit Brennelementen des alten, könnte kommen. In den xenophoben Tendenzen Europas und in der Politik der Bush-Regierung erkannte er die Keime eines neuen Verrats.

Als charakteristisch für die Bush-Regierung erachtete er das Hantieren mit alternativen Fakten. Gegen besseres Wissen habe die US-Administration die Existenz biologischer Massenvernichtungswaffen im Irak behauptet. "Es ist also möglich, trotz Parteienpluralismus und Pressefreiheit, die Bevölkerung einer liberalen Demokratie zu überzeugen, dass das Wahre falsch und das Falsche wahr ist." Das schrieb Todorov im Jahr 2008.

Damit hatte er den Kern des Problems bereits angesprochen, mit dem die liberale Demokratie heute sichtbar zu kämpfen hat. In den Köpfen der neuen Herren Amerikas spukt der Islam noch heftiger als in denen der spanischen Eroberer.

Stefan Buchen

© Qantara.de 2017

Stefan Buchen arbeitet als Fernsehjournalist für das ARD-Politikmagazin "Panorama".