Der Islam jenseits von Apologie und Polemik
Tabula rasa auf den Büchertischen zum Islam, das wäre ein Wunsch! Angesichts der Überfülle von Publikationen zum Thema kann nur noch der Fachmann die Spreu vom Weizen trennen. Was soll jemand lesen, der es satt hat, das Thema nur aus der Nachrichten- und Talkshowperspektive zu erfahren? Jemand, der ein halbwegs vollständiges Bild will, keine Spezialperspektive auf Kopftücher, Koraninterpretationen oder einzelne islamische Länder? Der mit sachlicher Information eine nachvollziehbare Einschätzung will, auf die er sich berufen, die er teilen kann?
Bis vor kurzem empfahl sich noch am ehesten die ein oder andere Darstellung für Kinder. Jetzt aber kann, wer sich vom reißerischen Titel "Zivilisation oder Barbarei?" nicht abschrecken lässt, auch zu Alexander Flores' strahlend weißem Taschenbuch im Verlag der Weltreligionen greifen.
Die souveräne Qualität dieser kompakten Arbeit über den "Islam im historischen Kontext" zeigt sich, wenn man sie an den Aktualitäten misst. Nehmen wir den Salafismus. Mehr als hier steht, muss niemand wissen, aber das zumindest sollte man wissen: etwa dass das salafistische Gedankengut früher auch reformatorische Qualitäten hatte und von Intellektuellen wie dem 1905 gestorbenen ägyptischen Großmufti Mohammed Abduh aufgegriffen wurde, um den Islam durch Beseitigung der Modernitätshindernisse auf Augenhöhe mit Europa zu bringen, ohne die eigene Identität aufzugeben.
Wie dann aber auch in Ägypten die saudische, der weltanschaulichen Öffnung widerstrebende Richtung die Oberhand gewann und im politischen Spiel gegen die säkularen, panarabischen Kräfte zunächst verlor, um heutzutage, jeglichen fortschrittlichen Potentials entkleidet, eine totalitäre Ideologisierung des Islams zu betreiben.
Was Goethe betörte
Wie "ambiguitätstolerant" – diese Wortprägung entlehnt Flores seinem Kollegen Thomas Bauer – dagegen gerade die mittelalterliche islamische Welt war, wird im Kapitel zum islamischen Recht gezeigt: Was die Scharia historisch bedeutete, hat denkbar wenig mit dem zu tun, was muslimische Propagandisten oder Islamfürchter heute partout darunter verstehen wollen.
Nur in den seltensten Fällen war sie ein im modernen Sinn gültiges, allseits angewandtes Recht; ihre drakonischen Strafen wurden selten oder gar nicht angewandt. Gerade die Herrscher kümmerten sich herzlich wenig um das islamische Recht; und von einer Verschmelzung von Staat und Religion, wie oft behauptet wird, kann keine Rede kann. Für die gewöhnlichen Gläubigen war die Scharia wie ein Kompass – man konnte damit in alle möglichen Richtungen gehen, keineswegs nur nach Mekka.
Überzeugend ist auch die Koran-Lektüre des Bremer Professors für Wirtschaftsarabistik: unpolemisch, aber nichtsdestoweniger selbstbewusst und aufgeklärt. Flores macht keinen Hehl aus dem, was bereits Goethe befremdete und betörte: Die abstoßenden Drohpassagen etwa – mit der vom Autor klug angeschlossenen Frage, was denn in Dantes Beschreibung der Hölle stünde –, die Vielfalt der möglichen Lesarten, die spirituelle Qualität.
In seinem Buch gelingt es Flores auf fast seiltänzerische Weise, Apologie und Polemik gleichermaßen zu meiden. Für eine detaillierte Widerlegung der Islamkritik braucht er keinen Platz. Alle ihre Motive finden sich ja bereits in Ernest Renans berüchtigtem Vortrag über den Islam aus dem Jahr 1883, aus dem am Anfang des Buchs kurz zitiert wird. Der weitere Text ist dann den Fakten gewidmet, nicht positiven oder negativen Phantasievorstellungen.
Auch den Palästina-Konflikt und alle im engeren Sinn politischen Entwicklungen spart Flores weitgehend aus. Das ist die einzig richtige Konsequenz aus den in dieser Monographie vermittelten Erkenntnissen. Denn so sehr der Islam unserer Tage von der Politik vereinnahmt wird und in die Politik drängt: Er ist noch nie wirklich mit ihr identisch gewesen.
Stefan Weidner
© Qantara.de 2013
Alexander Flores: "Zivilisation oder Barbarei? Der Islam im historischen Kontext", Suhrkamp Verlag der Weltreligionen, Frankfurt 2011
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de