Still leidende Frauen
Tibet ist kein Ort, von dem aufgeklärte Linksliberale heutzutage träumen. Zumindest findet Djawid, der Mann der ideologischen Wohnzimmer-Debatten, der mit den Jahren ein wohlhabender Holzhandelsvertreter geworden ist, es verbiete sich, Tibet in den "Lebensplan" einzubauen.
Tibet sei ein Land, das „auf der neuen Weltkarte“ nicht vorkomme. Djawid, der früher eher "schwärmerisch Kuba, die Sowjetunion oder China in Erwägung" zog, ist da ganz dogmatisch: Wer sich heute im Iran wünsche nach Tibet auszuwandern, klammere sich „an einen fadenscheinigen Mystizismus“.
Mit dieser Behauptung befinden wir uns mitten in Scholehs streitbarer Familie. Immer wieder liefern sich die Verwandten hitzige Wortwechsel zu unterschiedlichen Themen. Scholeh, die Erzählerin, ist daran nicht nur beteiligt, sie beobachtet auch genau, wie jeder Einzelne sich verhält.
Den provozierenden Traum von Tibet hat Djawids Bruder Sadegh zur Sprache gebracht, ein Mann, der bei den familiären Debatten meist schweigend dabeisitzt und nur hin und wieder seine Fluchtgedanken äußert. Seit er nach sechs Jahren Gefängnis in die Freiheit entlassen wurde, hält er es in seiner Heimat nicht mehr aus, hat keine Lust auf seinen früheren Ingenieursberuf und träumt stattdessen von Tibet.
"Schiwa! Steh auf"
Scholehs Hauptinteresse aber ist ihre große Schwester Schiwa. "Schiwa! Steh auf", so beginnen mehrere der Romankapitel. Schiwa, so glaubt Scholeh, ist unglücklich verheiratet mit Djawid. Zwar scheinen die beiden eine vorbildliche moderne Ehe zu führen, doch Scholeh ist überzeugt, dass der Schein trügt.
Wie besessen verfolgt sie jedes Detail in ihren Gesprächen und sieht genau hin, wie die Kinder behandelt werden und wer sich um Djawids kranke Stiefmutter kümmert, die im Obergeschoss wohnt. Es ist kein Zweifel, dass der Großteil der häuslichen Pflichten von Schiwa getragen werden muss – aber ist sie deswegen tatsächlich unglücklich, wie Scholeh behauptet?
Von unglücklichen Ehen ist im Roman häufiger die Rede. Sowohl Scholehs Mutter als auch Djawids Stiefmutter hatten als junge Frauen unter strengen, teilweise gewalttätigen Ehemännern zu leiden, sie waren unglücklich in andere Männer verliebt und wurden in ihrem Eheleben praktisch zu Hause eingesperrt. Derart rüde geht es in Schiwas Familie nicht mehr zu. Der Wohlstand der Mittelschicht ist gewachsen, die Debatten zwischen den Geschlechtern wirken freier und unbelasteter, doch das Unglück scheint immer noch ungebrochen über den Frauen zu schweben.
Scholeh selbst fühlt sich einsam und leidet an Liebeskummer. Ihre große Liebe, ein Arzt, der im selben Krankenhaus wie sie arbeitet, hat gerade mit ihr Schluss gemacht und eine andere geheiratet; sie quält sich mit ihren Gedanken an ihn, und ihr einziger Trost ist ein unattraktiver Bekannter, den sie den "Stoiker" nennt und zu dem sie regelmäßig ins Auto steigt, um lange Spazierfahrten zu unternehmen, auf denen sich die beiden aber nicht näher kommen.
Erst spät spürt Scholeh, dass ihr der Stoiker ein "längst vergessenes Gefühl von Wärme" schenkt, doch auch diese Beziehung ist nicht entwicklungsfähig und bleibt am Ende unglücklich.
Vafi betonte auf dem diesjährigen Internationalen Literaturfestival in Berlin, dass es ihr in ihren Romanen und Erzählungen vor allem darum geht, das weibliche Bewusstsein abzubilden und die Frauen in ihren mehr oder weniger fiktiven Geschichten ihre eigenen Rollen finden zu lassen.
Wachsende weibliche Autorengeneration im Iran
Was bedeutet weibliche Identität in der „lauten Männerwelt“? Wie verlaufen Liebesgeschichten im modernen Iran? Darauf gebe es viele mögliche Antworten und es sei sehr erfreulich, dass in den letzten Jahrzehnten eine wachsende weibliche Autorengeneration sich in ihren Büchern diesem Thema widmet.
Der Tibettraum steht als Metapher über den Schicksalen der unglücklichen Frauen – auch wenn er im Roman von einem männlichen Protagonisten formuliert wird. Doch es ist Schiwa, die diesen Traum ihres Schwagers leidenschaftlich verteidigt und Verständnis für Sadegh äußert, womit sie ihren aufbrausenden Mann provoziert. Den Traum von Tibet zuzulassen, einen Sehnsuchtsort zu kennen, der quasi unerreichbar ist, bedeutet sich dem eigenen Unglück zu stellen und sich nicht in die soziale Kontrolle pressen zu lassen.
Der Blick der Erzählerin ist gnadenlos, sowohl in Hinsicht auf ihr eigenes Schicksal als auch auf die übrigen Personen des Romans. Meisterhaft baut die Autorin Szenen in geschlossenen Räumen und verteilt ihre Figuren dramaturgisch geschickt, so dass wir die Szenerie lebendig vor uns sehen. Das Netz, in dem sich alle Familienmitglieder bewegen, gleicht mitunter einer Tschechowschen Theaterszene, in der das Unglück zwischen den Personen hin und her geschoben wird. Wie nebenbei deckt die Erzählerin kleine Schwächen auf, beobachtet versteckte Mienen oder fängt scheinbar optimistische, übertrieben heitere Stimmungen ein, hinter denen sich Abgründe auftun.
Doch die Frage, ob Schiwa tatsächlich unglücklich ist, bleibt offen. Schiwa scheint von unerschütterlicher Geduld erfüllt, um Djawids Tiraden und Besserwissereien gelassen zu ertragen. Zweifellos führt sie aber einen stillen Kampf, bei dem sie Scholeh beobachtet. Hier würde man sich manchmal etwas mehr offenen Konflikt wünschen. Doch die Lesegeduld wird belohnt: Das Geschehen im Haus der Eheleute steigert sich unmerklich und steuert gegen Ende auf einen tragischen Höhepunkt zu.
Ein Roman, der seine Protagonisten mit großer Natürlichkeit und Authentizität behandelt, ohne auf vordergründig psychologisierende Mittel angewiesen zu sein. Horror vacui mitten im Wohlstandshaushalt!
Volker Kaminski
© Qantara.de 2018
Fariba Vafi: "Der Traum von Tibet", Roman, Sujetverlag 2018, 232 Seiten, ISBN: 9783962020231