Das Verschwinden der Strände
In den vergangenen 15 Jahren registrierten die Fischer von Ghannouch, einer Kleinstadt rund 400 Kilometer südlich der Hauptstadt Tunis, massive Veränderungen des von ihnen genutzten Küstenstrichs. "Der Sand schwindet, stattdessen kommen Felsen zum Vorschein", sagt Sassi Alaya. Für den Seemann und Leiter der Fischereigilde im Hafen der Stadt ist das ein doppeltes Problem: "Denn schon jetzt leiden die Küsten des Gouvernements Gabes unter der Umweltverschmutzung durch die Chemiefabriken in der Region. Sie beeinträchtigt die Arbeit der kleinen Fischereibetriebe erheblich."
Ähnlich sieht es auch Mounir Kcherem. "Es gibt jetzt schwarze Flecken an den Küsten", sagt der Fischer von der nahe gelegenen Insel Kerkennah. "Die Küste von heute und die vor 20 Jahren unterscheiden sich enorm", sagt er im Deutsche Welle-Gespräch. "Allerdings beschränkt sich das Phänomen immer noch auf bestimmte Orte auf der Insel."
Die Fischerfamilien im Süden Tunesiens sind nicht die einzigen, die mit derartigen Veränderungen zu kämpfen haben. Eine aktuelle Studie der Weltbank über die wirtschaftlichen Folgen der Küstenerosion in dem Gebiet brachte einen dramatischen Befund zutage: Tunesien, Marokko, Libyen und Algerien verlieren ihre Strände schneller als fast alle anderen Länder der Welt.
Weltweit schnellster Küstenschwund
Die Strände der Maghreb-Region seien zwischen 1984 und 2016 um durchschnittlich 15 Zentimeter pro Jahr erodiert, so die Studie. Der weltweite Durchschnitt liegt bei etwa sieben Zentimetern pro Jahr.
Grundsätzlich ist es schwierig, den Verlust an Küsten genau zu bestimmen. Denn diese verlieren zum einen zwar Sand, gewinnen ihn zum anderen - etwa durch Ablagerungen - aber auch wieder hinzu. Nationale Durchschnittswerte sind darum mit Vorsicht zu genießen. Erst als die Weltbank-Forscher detaillierte Daten und Satellitenbilder der Europäischen Weltraumorganisation und des National Oceanography Center im Vereinigten Königreich verwendeten, wurde deutlich, wie gefährdet die Küsten des Maghreb in bestimmten Abschnitten sind.
So ist mehr als ein Drittel - 38 Prozent - der marokkanischen Strände bereits erodiert. Das Land verliert jährlich zwischen zwölf und 14 Zentimeter. Die libyschen Küsten gehen jedes Jahr um etwa 28 Zentimeter zurück, gelten im Vergleich zu Tunesien jedoch noch als vergleichsweise stabil. Dort erodiert ebenfalls rund ein Drittel - 35 Prozent - der Sandstrände, allerdings in viel höherem Tempo, nämlich um 50 bis 70 Zentimeter pro Jahr.
Im beliebten Touristenort Hammamet südlich von Tunis hat sich die Strandfläche zwischen 2006 und 2019 sogar halbiert. Das entspricht einem Verlust von etwa 24.000 Quadratmetern oder drei bis acht Metern pro Jahr.
Massive sozioökonomische Folgen
Die Ökonomen der Weltbank haben auch den Wert dieser Verluste berechnet. Demnach bedeuten die weggespülten Strände allein in Tunesien einen Verlust von gut 2,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Insgesamt entspräche das einem Verlust von rund 2,46 Milliarden Dollar (2,42 Milliarden Euro). Allerdings weisen die Forscher darauf hin, dass die Kosten "eher niedrig" angesetzt seien, da sie andere Werte wie entgangene Einnahmen aus dem Tourismus nicht berücksichtigten.
Die Küstenerosion hat noch eine weitere Auswirkung: Dringt Salzwasser in das Land ein, verschmutzt es frisches Grundwasser. Dieses ist dann weder als Trinkwasser noch für die Landwirtschaft nutzbar. Die potenziellen Auswirkungen der Küstenerosion auf Tourismus und Fischerei wirkten wie eine "sozioökonomische Bombe", schreiben Wissenschaftler des mit den Wasserressourcen im Mittelmeerraum befassten Forschungslabors HydroSciences der Universität Montpellier.
"Der Klimawandel verstärkt andere Bedrohungen und verschärft zugleich bereits bestehende soziale Risiken", sagt Lia Sieghart, Leiterin des Bereichs Umwelt und natürliche Ressourcen der Weltbank für den Nahen Osten und Nordafrika. "Marginalisierte soziale Gruppen sind durch die Auswirkungen des Klimawandels besonders gefährdet. Deshalb haben Maßnahmen gegen den Klimawandel auch eine politisch stabilisierende Wirkung", so Sieghart im Deutsche Welle-Interview.
Die Situation in den Maghreb-Ländern ist auch deshalb so prekär, weil viele Menschen an oder in der Nähe der Küste leben. In Marokko sind es 65 Prozent, in Tunesien sogar 85. Viele große Städte im Maghreb liegen an der Küste. In Tunesien werden schätzungsweise 90 Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes in dem Landstrich am Meer erbracht.
Der ohnehin hohe Bevölkerungsanteil könnte gemeinsam mit der zunehmenden Verstädterung einer der Gründe für die schnellere Erosion der Küsten sein. Gebäude und Menschen verdrängen Feuchtgebiete, Pflanzen und Sanddünen, die vor Erosion schützen.
Druck an Land und auf See
Die Küsten des Maghreb geraten zudem durch zwei weitere Faktoren des Klimawandels unter Druck. Zum einen führen die wärmeren Temperaturen zu einem Anstieg des Meeresspiegels, der dann die Strände überflutet. Außerdem kommt es häufiger zu extremen Wetterereignissen, die die Küsten beispielsweise durch Überschwemmungen, hohe Wellen und Wind schädigen können.
Zum anderen fällt auf einem sich erwärmenden Planeten auch weniger Regen. In der Folge herrscht in weiten Teilen Nordafrikas und des Nahen Ostens erheblicher Wassermangel. Darum versuchen die lokalen Behörden der Region, möglichst viel Süßwasser zu speichern. Dies aber erfordert mehr Dämme, deren Bau dann aber den natürlichen Sandzufluss zu den Küsten behindert.
Ein Teufelskreis. Gil Mahe vom Hydrosciences Laboratory, der derzeit am Institut National des Sciences et Technologies de la Mer (INSTM) in Tunis arbeitet, hofft dennoch, diesen durchbrechen zu können. Der Anstieg des Meeresspiegels sei zwar unvermeidlich, sagt er. Aber es gebe zahlreiche Möglichkeiten, die Küsten zu schützen - und zwar solange, bis Mensch und Natur ein "neues Gleichgewicht" erreicht hätten, so Mahe.
So empfehlen Experten so genannte "integrierte Küstenmanagementpläne". Diese umfassen sämtliche Aspekte der Erosion. Sie schlagen etwa eine höhere Steuer auf Bauarbeiten und Immobilien an der Küste vor sowie eine angemessene Renovierung der Dämme im Landesinneren, so dass mehr Sand und Sedimente zur Küste fließen können. Auch die Errichtung von Windschutzzäunen auf Dünen oder die Aussaat neuer Pflanzen gehören zu dem Programm.
Die Weltbank unterstütze diese Pläne, sagt Lia Sieghart. Es sei zwar richtig, dass kein Land den Klimawandel im Alleingang bewältigen könne. Allerdings seien lokale Reaktionen nach wie vor von entscheidender Bedeutung. "Denn sie können dazu beitragen, die Auswirkungen des Klimawandels abzumildern."
Cathrin Schaer & Tarak Guizani
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