Eine andere Kategorie der Katastrophe
Bekanntlich herrscht kein Mangel an Krisen in Nordafrika und im Mittleren Osten. Die Kriege im Fruchtbaren Halbmond, Jemen und Libyen sind inzwischen ebenso vertraute Begleiter wie der gefährlich fortschwelende israelisch-palästinensische Konflikt.
Die Türkei verwandelt sich allmählich in eine Diktatur und das bereits zur Diktatur zurückverwandelte Ägypten steht vor der Staatspleite. Die einstige "Kornkammer" am Nil produziert schon seit Jahrzehnten nicht mehr genug Nahrungsmittel für die schnell wachsende Bevölkerung. Jetzt kann die Regierung die nötigen Getreideimporte nicht mehr bezahlen. In den scheinbar stabilen Ländern kann, siehe Marokko, ein kleiner Funke eine neue Protestwelle auslösen.
All dies reicht schon für einen hohen Grad an Verzweiflung. Eine Plage anderer Kategorie trifft nun auf diese politisch-sozialen Zustände. Es ist kein harter, Aufsehen erregender Aufprall, sondern die Plage schleicht sich gewissermaßen unmerklich ein. Die Gefährlichkeit liegt unter anderem darin, dass, im kurzen Zeitintervall betrachtet, sich die winzige Veränderung als "Normalität" darstellt. Mit dem Begriff "creeping normalcy", sich einschleichende Normalität, beschreibt der US-amerikanische Wissenschaftler Jared Diamond die Unfähigkeit der Menschen, jene Plage überhaupt zu erkennen.
Zwischen Casablanca und Dubai ist es im Sommer noch nie kühl gewesen. Wer in Dahab im Juli ohne Sonnenschirm am Strand des Roten Meeres lag, mittags die Pyramiden in Gizeh oder den Chehl-Sotun-Palast von Isfahan besichtigte oder in Doha nur hundert Meter zu Fuß über die Straße lief, kann ein Lied davon singen. Schaut man präzise hin, stellt man fest, dass die Durchschnittstemperaturen in Nordafrika und im Mittleren Osten steigen, vor allem im Sommer.
Unbewohnbarkeit ganzer Landstriche
Forscher vom Max-Planck-Institut für Chemie haben präzise hingeschaut. Ihre Prognosen sind bedrückend. Auf Grund von Computersimulationen sagen sie der Region bis Mitte des Jahrhunderts einen durchschnittlichen Temperaturanstieg um rund vier Grad voraus. Die Zahl der extrem heißen Tage mit Höchsttemperaturen von 46 Grad und darüber werde sich verfünffachen, von heute 16 auf dann 80 Tage pro Jahr. Nachts würden die Temperaturen dann nicht mehr unter 30 Grad sinken.
"Das Klima in weiten Teilen des Orients könnte sich in den kommenden Jahrzehnten so verändern, dass es geradezu lebensfeindlich wird", sagt Atmosphärenforscher Jos Lelieveld, der Leiter der Studie, die dieses Jahr veröffentlicht wurde. Es drohe die "Unbewohnbarkeit" dieser Landstriche für viele Lebewesen, unter anderem für den Menschen.
Von einer "Plage" im Sinne höherer Gewalt zu sprechen, ist natürlich unpräzise. Denn das Horrorszenario ist ja Ergebnis der menschengemachten Erderwärmung. Die Menschheit hat in den 200 Jahren seit Beginn der Industrialisierung zu viel Kohlendioxid in die Luft geblasen und dadurch den natürlichen Treibhauseffekt verstärkt.
Der Temperaturanstieg ist allerdings nicht gleichmäßig über den Globus verteilt, sondern fällt in manchen Regionen höher aus als in anderen: zum Beispiel in der Arktis und – in den ariden und semiariden Regionen Nordafrikas und des Mittleren Ostens.
Schon heute führt der Hitzeanstieg dazu, dass mehr trockener Staub aufgewirbelt wird. Die Feinstaubbelastung habe deshalb in Saudi-Arabien, Irak und Syrien innerhalb von zwei Jahrzehnten um 70 Prozent zugenommen, sagen die Forscher vom Max-Planck-Institut.
Im Schutze des Sandsturms
Das passiert auch, ohne dass Bomber und Haubitzen den Beton von Aleppo und Faludscha in tausend Stücke hauen. Der Klimawandel im Orient interagiert dabei durchaus mit dem politischen Gang der Ereignisse. Im Mai 2015 eroberte ein Bataillon des IS die irakische Staat Ramadi im Schutze eines Sand- und Staubsturmes. Die Kampfflugzeuge der Anti-IS-Koalition konnten nicht aufsteigen. Und wenn man zeitlich einen kleinen Schritt zurückgeht, hat die vierjährige Dürreperiode vor 2011 einiges zur Unzufriedenheit und Verzweiflung der syrischen Landbevölkerung beigetragen. Bei der Erforschung der Ursachen des Aufstandes gegen das Assad-Regime wird man dies nicht ganz ausblenden können.
Diesen November treffen sich die Klimadiplomaten der Welt in Marrakesch. Die einzelnen Staaten sollen dann erklären, wie sie ihr Versprechen von Paris, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf höchstens zwei Grad zu begrenzen, konkret erfüllen wollen. Die schlechte Nachricht für die Stadt Marrakesch und die Länder entlang ihres Breitengrades: Selbst wenn die Welt es schafft, den CO2-Ausstoß künftig herunterzufahren, werden die Bewohner des Orients in der kommenden Generation einen Temperaturanstieg von durchschnittlich vier Grad im Vergleich zur Zeit vor der Industrialisierung erleben. Sollten die Treibhausgasemissionen ungehemmt weitergehen ("business-as-usual-Szenario"), prognostizieren die Forscher in den Ländern des Orients sogar 200 extrem heiße Tage pro Jahr am Ende des Jahrhunderts.
Wenn über die Ursachen der beklagenswerten politischen Zustände in der arabisch-islamischen Welt diskutiert wird, stehen sich oft die Thesen der "Zerfleischung" und der "Selbstzerfleischung" gegenüber. Es geht um die Frage, ob Kolonialismus und Einmischung von außen den Niedergang verursacht haben oder ob "die Einheimischen selbst schuld sind".
Der Klimawandel im Orient wird diese Diskussion unter anderen Vorzeichen neu entfachen. Ölexportierende Staaten, allen voran Saudi-Arabien, gehören auf den Klimakonferenzen seit jeher zu den Bremsern. Sie stellen das wirtschaftliche Interesse am Rohstoffverkauf über die Notwendigkeit, Treibhausemissionen zu senken. Die Kunden in Nordamerika, Europa, China und Japan tragen mit ihrem exzessiven Verbrauch fossiler Energie mehr als alle anderen zur globalen Erwärmung bei.
Die zu erwartende neue Diskussion um die Frage, wer schuld an der klimabedingten Unbewohnbarkeit weiter Teile des Orients gewesen sein wird, wird ebenso wenig eine Theorieübung bleiben wie der alte Disput über die Folgen des Kolonialismus.
Wer verstehen möchte, wie das gemeint ist, kann schon heute verdorrte Pistazienplantagen im Iran, kranke Dattelpalmenhaine in der Nähe von Marrakesch und Sandstürme in Bagdad beobachten. An Vorboten mangelt es nicht. In den Ländern des Orients leben 550 Millionen Menschen. Professor Lelieveld und sein Team rechnen damit, dass "viele Menschen diese Region früher oder später verlassen könnten."
Aus abendländischer Perspektive wird dann, um mit den Worten des führenden deutschen Klimaforschers Hans Joachim Schellnhuber zu sprechen, "die christliche Nächstenliebe allenfalls wie eine ethische Aufwärmübung erscheinen."
Stefan Buchen
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Stefan Buchen arbeitet als Fernsehjournalist für das ARD-Magazin Panorama.