Verschenktes Jahr

Die Europäische Union vermisst Reformen in der Türkei, Ankaras Führung warnt vor EU-Müdigkeit. Es gibt kaum Fortschritte in den Verhandlungen über einen türkischen EU-Beitritt.

Von Daniela Schröder

"Wir tun so, als ob wir Euch eines Tages rein lassen würden, während Ihr so tut, als ob Ihr Reformen durchführt…" – so beschreibt ein versierter EU-Diplomat den gegenwärtigen Zustand der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Mehr Stillstand als Vorankommen, Unsicherheit über das Ziel auf beiden Seiten.

Auch der jüngste Türkei-Bericht des Europaparlaments überrascht nicht: Europas "Meckerliste" ist bekannt, Brüssel drängt erneut für ein höheres Tempo bei den politischen Reformen.

Gedämpfte Erwartungen in der Türkei

Ankara macht sich zwar offiziell immer noch für einen EU-Beitritt stark. Echter Enthusiasmus will jedoch nicht aufkommen. Bei einem Treffen mit der EU-Spitze warnte jüngst der türkische Außenminister Ali Babacan, dass die anfängliche Europa-Begeisterung und der Reformwillen seiner Landsleute wegen der zähen Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Türkei, zunehmend schwinden.

Angesichts der Unentschlossenheit der EU auch kein Wunder, meint Ayhan Kaya, Direktor des Europa-Instituts der Istanbuler Bilgi-Universität: "Das Problem ist, dass die EU keine Vision für ihre Zukunft besitzt, daher hat sie für die Türkei deutlich an Anziehungskraft verloren."

Doch trotz der gegenwärtigen Krise hält EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn unbeirrt am Erweiterungsprozess fest. Die EU müsse ihre Versprechen einhalten, sagt er. Und das gelte auch für die Türkei.

Seit Oktober 2005 verhandelt Brüssel mit Ankara über einen Beitritt zur EU. In zehn bis 15 Jahren könne es soweit sein, so Rehns Prognose, falls die Türkei ihren Reformkurs konsequent weiter verfolge.

Im Europaparlament wächst die Skepsis, dass Ankara dies schafft. Außenexperte Elmar Brok (CDU) warf der Regierung von Recep Tayyip Erdogan vor, "überhaupt nicht daran zu denken, sich europäischen Wertestandards anzupassen." Die Grenzen der Reformfähigkeit seien erreicht.

Der SPD-Abgeordnete Klaus Hänsch sagte, die EU dürfe keine Abstriche bei den Beitrittskriterien mehr machen, wie es bei der Aufnahme von Bulgarien und Rumänien geschehen sei und es sich auch im Fall des Kandidaten Kroatien abzeichne.

"Mittelmeerunion" versus EU-Beitritt der Türkei

Mit dem Versprechen, die Türkei aus der EU zu halten, gewann Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy im vergangenen Jahr wichtige Wählerstimmen.

Seinen Plan für eine "Mittelmeerunion" als Alternative zum EU-Beitritt der Türkei hat die Europäische Kommission jüngst zwar deutlich einen Dämpfer erteilt, auch ist die Mehrheit der EU-Staaten weiterhin für die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union.

Doch das Gewicht könne sich verschieben, meint Antonio Missiroli vom Brüsseler "European Policy Centre": "Sollte Deutschland nach der Wahl 2009 nicht mehr von einer Großen Koalition, sondern von den Konservativen regiert werden, dann gibt es eine deutsch-französische Gegenbewegung zum Türkei-Beitritt."

Dies könne verstärkt werden, sagt Missiroli, sofern die pro-türkischen Briten noch weiter auf Distanz zur EU gehen.

​​Die Aufnahme der Beitrittsgespräche mit Ankara hatten die EU-Regierungen einstimmig beschlossen. Gemeinsames Ziel der Verhandlungen ist die EU-Mitgliedschaft. Automatisch beitreten wird die Türkei jedoch selbst dann nicht, wenn sie alle Aufnahmekriterien erfüllt.

"Ergebnisoffen" sei der Verhandlungsprozess, betont auch der neue Türkei-Bericht des Europaparlaments. Die Hürden für das Land am Bosporus sind so hoch wie nie zuvor für einen Beitrittskandidaten. Denn am Ende der Gespräche will die EU auch prüfen, ob sie einen Beitritt der Türkei wirtschaftlich und politisch überhaupt verkraften kann.

Falls sie es jemals will. "Die Probleme innerhalb der EU werden nicht abnehmen, der vielstimmige Chor zum Thema Türkei wird auch in Zukunft zu hören sein", prophezeit EU-Expertin Sarah Seeger vom Münchener "Centrum für angewandte Politikforschung".

Anti-Ankara-Allianzen in der EU

Die Türkei passe einfach nicht zu Europa, argumentiert die Anti-Ankara-Allianz in der EU, allen voran Frankreich, Österreich und das konservative Lager in Deutschland. Viel zu groß, viel zu arm und viel zu anders sei das Land an der Grenze zwischen Europa und Asien.

Auch das stark nationalistische politische Klima gilt den Beitrittsgegnern als Beweis, dass die Türkei nie ein guter Europäer sein werde. Jüngstes Beispiel für die Instabilität in der türkischen Politik sei das Verbotsverfahren gegen die islamisch-konservative Regierungspartei AKP, warnen auch konservative EU-Parlamentarier.

Seeger hält die regelmäßigen Brüsseler Berichte von Kommission und Parlament für "kontraproduktiv". Reformen durchzuführen koste eine Gesellschaft Geld und Gewohnheiten, sagt sie. Entsprechende Anstrengungen müsse die EU daher auch belohnen.

Dauerklagen über Menschenrechte und Demokratiedefizit wirken unglaubwürdig, wenn sogar osteuropäische EU-Mitgliedsstaaten in diesen Bereichen keine Fortschritte machen, meint auch Necati Lyikan, EU-Expertin an der Akdeniz-Universität in Antalya.

"Die Türken haben den Eindruck, dass die EU mit verschiedenen Maßstäben misst", sagt Iyikan. Um von der EU verlangte Reformen hätten die politischen Führer im Wahljahr 2007 daher auch einen großen Bogen gemacht.

2008 aber soll laut Ministerpräsident Erdogan nun das "Jahr der Reformen" werden. Doch es läuft schleppend. Die versprochenen Änderungen des umstrittenen "Türkentum"-Paragraphen 301 reichen der EU bei weitem nicht aus.

Was bisher auf dem Tisch liege, sei nur ein aller erster Schritt, kritisiert der Bericht der Europaabgeordneten. Auf dem Weg zu voller Meinungsfreiheit habe das Land "keinerlei Fortschritte" gemacht.

"Die Türkei muss wieder auf den Reformpfad zurückfinden", sagt der deutsche Europa-Parlamentarier Cem Özdemir. Wegen Präsidentenwahl und Neuwahlen sei 2007 ein "verschenktes Jahr" gewesen. Jetzt aber müsse Ankara "den türkischen Zug wieder auf europäische Gleise setzen", fordert Özdemir. "Der Weg ist hier ebenso wichtig wie das Ziel."

Daniela Schröder

© Qantara.de 2008

Daniela Schröder arbeitet als freie EU-Korrespondentin in Brüssel und Deutschland.

Qantara.de

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