Eine Art "Woodstock Marokkos"

Das Gnawa-Weltmusik-Festival in Essaouira ist vor allem bei Jugendlichen beliebt. Doch dass jüngere Generation so ausgelassen tanzt, ist vielen marokkanischen Tugendwächtern ein Dorn im Auge.

Von David Siebert

​​Als der altehrwürdige Gnawa-Meister Maâlem Mahmoud Guinea mit dem aus Mali stammenden Pianisten Cheick Tidiane Seck auftritt, ist der Höhepunkt des Festivals erreicht. Es sind uralte Melodien und Gesänge, die über den Bab-Marrakesch-Platz wehen. Doch das Publikum, das den Klängen der traditionellen Gnawa-Musik lauscht, ist jung, bunt gemischt und modern.

Seit 1998 verwandelt das Festival die beschauliche Hafenstadt an der Atlantikküste in eine riesige Open-Air-Bühne. Eine brodelnde Festivalatmosphäre macht sich breit, an Schlaf ist für einige Tage nicht zu denken.

Das Publikum, das sich Nacht für Nacht durch die engen Gassen der Medina drängt, könnte vielfältiger kaum sein: Tausende Touristen sind angereist. Sie mischen sich unter Marokkaner jedweder Couleur, vom alten Dschellaba-Träger über Frauen mit Schleier bis hin zur hippen Studentin.

Essaouira – das Mekka der Gnawa-Freunde

Für die Großstadtjugend ist das Festival das Highlight des Jahres. Mit Dreadlock-Frisur, Punkeroutfit oder Bob-Marley-T-Shirt reisen sie in überfüllten Bussen aus Casablanca und Rabat an.

Keiner will sich das größte und kosmopolitischste Festival Marokkos, wenn nicht gar des ganzen Kontinents, entgehen lassen. Die Hotels sind komplett ausgebucht – viele Einheimische ziehen sogar zu ihren Verwandten und vermieten ihre Wohnungen, um ein paar Dirhams dazu zu verdienen.

Das Gnawa-Festival ist eine Erfolgsgeschichte: Angefangen hat es mit kleinem Geldbeutel, doch heute hat sich das Budget auf 600.000 Euro verzehnfacht. Seit 2004 kommen jedes Jahr mehr als 400.000 Festival-Begeisterte.

Namhafte internationale Künstler waren schon Gäste der Gnawas. Joe Zawinul oder Pat Metheney spielten hier. Aus der Weltmusikszene waren unter anderen Youssou N'Dour, Salif Keita, The Wailers oder Rachid Taha zu Besuch.

Die Mischung aus Mystizismus und Musik machte die Gnawas bereits in den 60er Jahren für viele Weltreisende aus dem Westen interessant.

Jazzmusiker wie Randy Weston und Archie Shepp kamen nach Marokko, um mit den Gnawas zu jammen. Essaouira wurde zu einem Musik-Mekka der Hippies: Jimi Hendrix verweilte einige Monate hier, auch Cat Stevens oder Led Zepplin wurden von den Gnawas in den Bann gezogen.

Musikalische Experimente und Begegnungen

Auch heute noch kommen Musiker aus der ganzen Welt nach Essaouira, um mit den Gnawas zu spielen. "Solche spontanen Begegnungen gibt es sonst nirgends. Hier stehen Improvisation und Austausch im Vordergrund", meint der Musiker Karim Ziad, Mitorganisator des Festivals.

Der algerische Jazz-Schlagzeuger weiß aber auch von Kommunikationsproblemen zu berichten: "Die Rhythmen der Gnawas sind komplex. Sie lassen sich kaum notieren. Das führt oft zu Verwirrungen."

Nicht immer gelingen die Weltmusik-Experimente. Das "Gnawa Rock Projekt", mit dem der französische Bassist Loy Ehrlich an die Begegnung von Gnawas und Hippies erinnern will, verkommt zur bloßen Pose. Die Gnawa-Kombo von Maâlem Saïd Boulhimas ist mit Jimi-Hendrix-Klischees überzeichnet.

Maâlem Mahmoud Guinea (rechts) mit seiner Gembri-Gitarre, und seine Band bei ihrem Auftritt in Essaouira; Foto: Daniel Siebert
Maâlem Mahmoud Guinea (rechts) mit seiner Gembri-Gitarre, und seine Band bei ihrem Auftritt in Essaouira

​​Qualitativ am besten und eindrucksvollsten sind immer noch jene Konzerte, bei denen afrikanische Künstler aufeinander treffen. Etwa als die Gnawas von Maâlem Abdelkébir Merchane mit der Perkussionsgruppe Yaya Ouattara Duba Dew aus Burkina Faso und dem senegalesischen Koraspieler Soriba Kouyaté gemeinsam auf der Bühne afrikanische Musikkultur zelebrieren.

Auch die Jugendszene hat in Essaouira einen angestammten Platz: Auf der Bühne am Strand treten marokkanische Elektro-DJs zusammen mit "Asian Dub Foundation" aus London auf.

Die größte Publikumsbegeisterung löst zweifelsohne "Hoba Hoba Spirit" aus: Das sind Vertreter einer neuen Generation marokkanischer Fusion-Bands, die traditionelle Klänge des Maghreb mit Rock und Reggae mischen und als Sprachrohr der marokkanischen Jugend gegen die politischen Verhältnisse im Land fungieren.

Musikalische Tristesse und Aufbruch

Noch bis Anfang der 90er Jahre glich die musikalische Landschaft Marokkos einer Wüste. Es gab oft nur kopierte Kassetten aus dem Westen, seichten Rai-Pop aus Algerien oder arabische Schmachtfetzen in den Staatssendern.

Das Essaouira-Festival stellt daher für Marokko einen Meilenstein dar: "Zu Beginn gab es nur Skepsis. Keiner hat geglaubt, dass sich so etwas organisieren lässt. Mittlerweile hat jede größere Stadt ein eigenes Festival", erklärt Azoul Azoulay, Mitbegründer des Festivals und zugleich Berater der Königsfamilie.

Der junge König Mohamed VI. ist darum bemüht, das Land durch demokratische Reformen zu modernisieren. Unter der Herrschaft seines Vaters stand Kultur noch unter dem Generalverdacht der Subversion.

Das Essaouira-Festival reflektiert heute auch diesen Öffnungsprozess und versteht sich als "Imagepflege" und Tourismuswerbung für das Land.

Die marokkanische Presse schreibt gar vom "Woodstock Marokkos" und vom "Essaouira Spirit". "In Essaouira ist die Straße der Ehrengast”, meint das linke Magazin "Journal Hebdo" - tatsächlich sind alle Konzerte in Essaouira kostenlos.

Islamisten wittern Dekadenz und Verwestlichung

Alles nur Brot und Spiele fürs Volk? Nein, das Essaouira-Festival ist auch Schauplatz eines Kulturkampfes. Die islamistische PJD (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung), könnte die kommenden Parlamentswahlen gewinnen.

Sie prangert die "Verwestlichung" Marokkos an. Das Gnawa-Festival nennt sie einen Hort der "Ausschweifungen, der Drogen und der Homosexualität". Auch gegen das Jugend-Open-Air "Boulevard des jeunes musiciens de Casablanca" wird gehetzt. "Die PJD sieht darin eine Mischung aus Sodom und Gomorrha", bemerkt hierzu das marokkanische Journal "Telquel".

Doch die Diffamierungen und Drohgebärden der Islamisten lässt das Publikum in Essaouira kalt. Hier tanzt die Jugend Marokkos. Von Klebstoff schnüffelnden Straßenkids über Schüler im Neo-Hippie-Look bis hin zur schicken "jeunesse dorée" freut man sich über die Musik – egal ob Gnawa oder Hiphop.

David Siebert

© Qantara.de 2007

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