Das Versagen der arabischen Eliten
Als im Jahr 2011 die Arabellion, die größte Massenmobilisierung in der jüngsten Geschichte der arabischen Völker, ausbrach, meinten einige Beobachter, das Haupthindernis für eine erfolgreiche Überwindung autoritärer Herrschaft sei die große weltanschauliche Entfremdung zwischen regierenden Eliten und Volksmassen. Diese Entfremdung zeige sich an der Säkularität der Machteliten und der Religiosität der breiten Bevölkerung in den arabischen Gesellschaften.
Und tatsächlich sah es so aus nach den ersten Rückschlägen in arabischen Umbruchstaaten: Nach dem Abgang der Langzeitdiktatoren in Ägypten und Tunesien fiel das gemeinsame Feindbild der heterogenen Protestbewegungen weg. Die Träger der arabischen Revolten verstrickten sich zunehmend in ideologische Grabenkämpfe.
Diese gesellschaftliche Polarisierung zwischen einem konservativ-islamistischen Lager auf einer einen Seite und einem säkularen Lager auf der anderen Seite trug letztendlich zum vorläufigen Scheitern der Arabellion bei: In Ägypten kehrte die alte, scheinbar säkulare Machtelite nach dem Militärputsch im Sommer 2013 an die Schalthebel der Macht zurück, während Libyen und Syrien in einen erbarmungslosen Bürgerkrieg versanken.
Alle Macht dem Palast
Erstaunlicherweise haben die nordafrikanischen Länder die Turbulenzen revolutionärer Dynamik relativ unbeschadet überstanden: Aus Angst vor erneutem Bürgerkrieg blieb es in Algerien weitgehend ruhig; in Marokko trat König Mohammed VI. 2011 die Flucht nach vorne an und gab aus Angst vor Massenprotesten einige Befugnisse ab, im Rahmen einer Verfassungsänderung, die das Land zu einer konstitutionellen Monarchie hätte machen sollen.
Doch spätestes seit der Regierungskrise nach der Parlamentswahl im August 2016 und der Entlassung des populären Ministerpräsidenten Benkirane wissen wir, dass sich die Hoffnung auf echten Wandel offensichtlich nicht erfüllt hat. Die Strategie des Palastes und seiner Netzwerke zielt weiterhin darauf ab, jedwede politisch autarke Kraft wie die "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (PJD) zu schwächen und die Organisation von unabhängigen Gewerkschaften im Keim zu ersticken. Marokko ist dabei, zur autoritären Herrschaft alter Prägung zurückzukehren.
Geblieben ist nur Tunesien als einziger Hoffnungsträger der Arabellion. Trotz großer wirtschaftlicher Probleme und Destabilisierungsversuche durch dschihadistische Terroranschläge hat das Land weiter die besten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Demokratisierung im arabischen Raum.
Eliten von den sozialen Realitäten entkoppelt
Selbstverständlich war es unrealistisch zu glauben, dass das schwere Erbe der Diktatur ohne heftige, innergesellschaftliche Konfrontation überwunden werden kann. Diese Auseinandersetzungen waren sicherlich für die Selbstfindung und Neuorientierung arabischer Gesellschaften nach einem halben Jahrhundert autoritärer Herrschaft unausweichlich.
Doch die ideologische Konfrontation zwischen Säkularisten und Islamisten täuscht über die wahren Ursachen der Misere hinweg. Natürlich ging es nach dem historischen Umbruch um ein neues Staatsverständnis, aber vor allem um einen neuen Gesellschaftsvertrag, mit dessen Hilfe die Überwindung der riesigen Kluft zwischen den Regierten und den Regierenden gelingen sollte.
Sozialer Sprengstoff
Die anhaltenden Proteste in Nordafrika, vor allem in Marokko, offenbaren das Ausmaß staatlichen Versagens. Noch nie war die Entfremdung zwischen (korrupten) Eliten und den sozialen Realitäten der normalen Bevölkerung so groß. Noch nie waren die Unterschieden zwischen Arm und Reich, zwischen Stadt und Land so groß.
Mehr als ein Fünftel der marokkanischen Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze, ländliche Gebiete wie die Rif-Region leiden seit Jahrzehnten unter staatlicher Vernachlässigung, fehlenden Investitionen und hoher Arbeitslosigkeit. Erschwerend hinzukommen Behördenwillkür und die weit verbreitete Korruption.
Keine Frage: Wir sind Zeuge einer großen sozioökonomischen Krise in Nordafrika und im Nahen Osten. Jeder dritte Araber ist heute unter 23, die arabische Welt braucht in den nächsten 20 Jahren mindestens 50 Millionen Jobs, von denen niemand weiß, wo sie herkommen sollen. Die autoritären Regime haben im Laufe der Zeit nicht nur den Sozialvertrag aufgekündigt. Die herrschenden (Militär)-Eliten verwenden staatliche Ressourcen zum eigenen Nutzen - und verschärfen somit die Krise fragiler Staatlichkeit in der Region.
Was sollte Europa tun?
Die Europäische Union hat keine andere Wahl als auf die Stärkung der verbliebenen Staatlichkeit hinzuarbeiten. Jede Form der Kooperation mit den Staaten in Nordafrika und im Mittleren Osten sollte aus diesem Grund darauf abzielen, die staatlichen Institutionen, Verwaltung und Infrastruktur effizienter, bürgerfreundlicher und weniger korrupt zu machen. Dabei müsste unbedingt auf die Einhaltung von Standards guter Regierungsführung geachtet werden.
Eine bedingungslose Zusammenarbeit hingegen mit vermeintlich "stabilen" Diktaturen dürfte sich als ein brandgefährliches Abenteuer erweisen.
Loay Mudhoon
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