Zur Zusammenarbeit verdammt
Keine Frage, dieser Tag markiert - allen Widrigkeiten zum Trotz - ein historisches Ereignis. Denn zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte Ägyptens wird mit Mohamed Mursi, dem Kandidaten der islamisch-konservativen Muslimbruderschaft, ein halbwegs demokratisch legitimierter Präsident das höchste Amt im 80-Millionen-Staat am Nil übernehmen. Mit ihm übernimmt auch erstmalig ein Zivilist das Präsidentenamt in einer postkolonialen, arabischen Republik.
Doch diese Zäsur kann nicht darüber hinweg täuschen, dass er sein Amt unter äußerst schwierigen Bedingungen antreten wird. Ägypten, das Herzland der arabischen Welt, ist nach 16 Monaten revolutionärer Dynamik politisch de facto gespalten.
Bruch mit dem alten System
Die Strategie der Zermürbung und der militärisch verursachten Rechtsunsicherheit führte dazu, dass viele "Otto-Normal-Ägypter" jenseits der "Tahrir-Avantgarde" der andauernden Proteste und der instabilen postrevolutionären Zeiten überdrüssig sind. Und dies erklärt die überraschend große Unterstützung für Ahmed Shafik, einen korrupten Vertreter des alten Regimes, gegen den sich Mursi erst in der Stichwahl relativ knapp durchsetzen konnte.
Die meisten Ägypter, vor allem die Anführer der revolutionstragenden Bewegungen, haben sich in den letzten Wochen hinter Mursi, den spröden Apparatschik der Muslimbruderschaft, geschart - nicht aus Sympathie für seine intransparente und ideologiegesteuerte Bruderschaft, sondern weil sie den endgültigen Bruch mit dem Mubarak-System und seinem "tiefen Staat" wollten.
Ein Präsident von Gnaden des Militärs?
Eigentlich sollte mit der Wahl Mursis das Ende der seit 60 Jahren bestehenden Vorherrschaft der Streitkräfte eingeläutet werden. Doch der künftige Präsident Mursi wird kaum noch Machtbefugnisse haben, nachdem die Generalität ihm zuvorkam und durch einen "Verfassungscoup" das demokratisch gewählte Parlament auflösen ließ, die Gesetzgebungskompetenz bis auf weiteres übernahm und ihm die Budgethoheit und die Befehlsgewalt über die Streitkräfte entzog.
Es ist ein offenes Geheimnis, dass Shafik dem regierenden Militärrat als Präsident viel lieber gewesen wäre. Denn mit dem ehemaligen Luftwaffen-General hätte sich die privilegierte Oberschicht der Armee um Feldmarschall Tantawi im bestehenden Rahmen viel leichter arrangieren können.
Generäle fürchten den Druck der Straße
Außerdem deuten viele Indizien darauf hin, dass die Generäle sich überhaupt auf den Islamisten Mursi als Präsidenten eingelassen haben, weil sie im Falle einer offensichtlichen Manipulation der Ergebnisse der Stichwahl zugunsten ihres Kandidaten Shafik den Druck der Straße fürchteten - und offenbar Angst vor einer großen, unkontrollierbaren Ausschreitungswelle hatten. Viele einflussreiche Kräfte und Persönlichkeiten, allen voran Oppositionspolitiker und der Nobelpreisträger Mohamed ElBaradei, haben in den letzten Tagen den autoritär agierenden Generälen den Ernst der Lage im bevölkerungsreichsten arabischen Land deutlich gemacht.
Der Muslimbruder Mursi, an dessen Format und Eignungen für das höchste Amt im Staat es erhebliche, zum Teil berechtigte Zweifel gibt, ist zur Zusammenarbeit mit anderen politischen Kräften verdammt. Er ist vor allem auf die "Legitimität des Tahrir-Platzes" angewiesen, will er die Machtprobe mit den selbstbewussten Militärs bestehen.
Für die Zukunft Ägyptens ist die Überwindung der alten Machtpole zwischen dem Militär und den Islamisten von entscheidender Bedeutung. Und noch wichtiger: Die Ägypter erwarten von einem demokratisch gewählten Präsidenten keine "islamische Renaissance" und keine Weltbeglückungsvisionen islamistischer Prägung, sondern praktikable Lösungen für die großen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme ihres Landes. Und genau an der sozialen Frage wird sich die Zukunft der gesamten demokratischen Transformation Ägyptens entscheiden.
Loay Mudhoon
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Redaktion: Arian Fariborz/ Qantara.de