Statt Freiheit nur mehr Schall und Wahn?
Irrsinn ist kein schlechter Ausgangspunkt, wenn man beschreiben will, was sich in Ägypten derzeit abspielt, denn in Zeiten des Irrsinns ist bekanntlich alles möglich: Zum Beispiel, dass eine Handpuppe allen Ernstes der Spionage verdächtigt wird – so geschehen im Falle der knopfäugigen Abla Fahita , die in Werbespots für den Mobilfunk-Konzern Vodafone auftritt und von einem Verschwörungstheoretiker als Trägerin heimlicher Botschaften an die Muslimbrüder angeprangert wurde. Oder dass ein Fernsehsender Mitschnitte aus privaten Telefongesprächen politischer Aktivisten ausstrahlt, um diese vor der Öffentlichkeit anzuschwärzen – ohne einen Gedanken an die Pflicht zum Schutz der Privatsphäre.
Es passt ins Stimmungsbild, dass Schriftsteller und Intellektuelle sich auf deprimierende und kleinliche Attacken gegen ihresgleichen einlassen, denen sie vorwerfen, als "fünfte Kolonne" im Staat zu funktionieren; und generell verschließt man die Augen vor der Gewalt, mit welcher der Sicherheitsapparat dafür sorgt, dass keine Stimme sich über diejenige erhebt, die den "Krieg gegen den Terror" – die gängige Formel für das Vorgehen gegen die Muslimbrüder – verkündet.
Macht der Masse
Kurz gesagt: Viele rüsten sich jetzt zum Kampf, bereit, sich auf jeden zu stürzen, der anders denkt als sie, und befangen im Traum von einem "idealen Staat" – der nichts anderes wäre als ein homogener Block, dessen innere Harmonie durch keine einzige Stimme gestört würde, die dem – vorgeblichen – "nationalen Konsens" zu widersprechen wagte.
Die "ägyptische Straße" wogt und lärmt, und sie ist es letztlich, welche die Agenda diktiert; denn Teile der Eliten identifizieren sich mit der großen Masse, laufen ihr hinterher und zeigen sich unfähig, alternative Visionen zu entwickeln. Und noch wenn dies gelänge, vermöchten sie doch nicht, mehr Menschen hinter sich zu scharen als diejenigen, die ihre Ansichten ohnehin teilen.
Jenes undurchsichtige, schwammige Wesen, das wir "die Masse" nennen, ist zum Kompass geworden, an dem sich Ägypten orientiert, zum entscheidenden Gewicht in der Waagschale der politischen Akteure. Dieses Wesen hat sich in den ersten Tagen der Revolte den Demonstranten zugewandt und ihre Proteste zu einer von weiten Teilen des Volkes mitgetragenen Massenbewegung gemacht; dann, bei den Parlamentswahlen, neigte sich seine Gunst den Kandidaten der Muslimbrüder zu und ermöglichte ihnen den so lang erhofften Griff nach der Macht – doch handkehrum zeigte es ihnen die Zähne, nachdem klargeworden war, dass die neuen Machthaber das Wohl der Nation ihren eigenen Interessen hintanstellten.
Parallel zum Irrsinn der Masse selbst gibt es eine Art Besessenheit von der Masse; wohin sich das Auge wendet, wird es jemanden finden, der dem "Volk" schmeichelt oder es bejubelt – ungeachtet der Gefahren, die das erfahrungsgemäß birgt.
Für diese Masse, die es nun sehr eilig hatte, die Seite mit dem unrühmlichen Kapitel der Muslimbrüder-Regentschaft umzuschlagen, war das Verfassungsreferendum ein Grund zum Feiern. Zu Beginn meinte man angesichts der vor den Wahlbüros tanzenden Männer und Frauen, hier finde ein fröhliches Festival statt und nicht ein Urnengang in einem krisengeschüttelten Land; aber im Maß, da sich solche Szenen wiederholten, wurden sie zum Kennzeichen dieser Abstimmung und zum Inbild einer Wendezeit, in der Freudentänze und Blutvergießen nahe beisammen liegen.
Der Tanz der Wähler
Der Tanz der Wähler war ihre Herausforderung an die Kräfte, die im Vorfeld des Referendums mit Sprengstoffattentaten Angst und Schrecken verbreitet hatten, und Ausdruck ihres Glaubens, bessere Patrioten als diejenigen zu sein, die ein "Nein" in die Urne legten oder dieser überhaupt fernblieben.
Das Referendum war denn auch weniger eine Abstimmung über die neue Verfassung als eine grundsätzliche Meinungsäußerung über den künftigen Weg der Nation. Es gab Wähler, die ihr "Ja" mit großen Vorbehalten einlegten, weil die neue Verfassung dem Militär beträchtliche Sonderrechte einräumt und die Verurteilung von Zivilpersonen durch Militärgerichte zulässt; solche Ja-Stimmen mochten auch als Denkzettel für die Muslimbrüder gedacht oder der Erwägung geschuldet sein, dass die neue Verfassung jedenfalls das kleinere Übel sei als diejenige von 2012.
Die Verhaftungen im Umfeld des Wahlgangs, die Schikanen der Sicherheitskräfte gegenüber jenen, die sich für die Ablehnung der Verfassung aussprachen, die Propaganda, die ohne Unterlass verkündete, nur wer für die Verfassung sei, sei auch ein rechter Bürger – all das warf dunkle Schatten auf diese Abstimmung, die man guten Gewissens als einen Urnengang ohne Wahl bezeichnen kann.
Dennoch darf dessen Ergebnis wohl als Signal für den vernichtenden Popularitätsverlust der Muslimbrüder gelesen werden; dies umso mehr, als die Bruderschaft auch bei den Berufsverbänden, die in der Ära Mubarak als eine Art Schutzraum für das Fortbestehen ihrer damals verbotenen Organisation fungierten, massiv an Boden verloren hat.
Gleichzeitig war die Abstimmung aber auch ein Warnsignal in Richtung des Militärapparats, der die unangenehme Überraschung erlebte, dass die Wahlbeteiligung mitnichten seinen Erwartungen entsprach. Mit 38,6 Prozent lag sie nur wenig über derjenigen, mit der 2012 der Verfassungsentwurf der Muslimbrüder angenommen worden war.
Vor den Vätern sterben die Söhne
Immer wieder weist die ägyptische Revolution auch Züge eines Generationenkriegs auf. Von Anfang an hatten die jungen Revolutionäre durch ihre Parolen und Stellungnahmen ihr Verlangen bekundet, einen Strich unter die Vergangenheit zu ziehen und aus der erstickenden Hierarchie der ägyptischen Gesellschaft auszubrechen. Von der bedingungslosen Autorität, die hierzulande dem Vater zugemessen wird, ist es nur ein kleiner Schritt zum in autoritären Zirkeln gern beschworenen Bild des väterlichen Retters, das die "gerechte" oder "aus der Not geborene" Diktatur legitimieren soll.
Paradoxerweise ist jedoch das genaue Gegenteil dessen geschehen, was sich die jungen Demonstranten erhofft hatten. Nicht die Väter starben; stattdessen sahen wir in den vergangenen drei Jahren, wie die Söhne liquidiert und ihre Leichname verstümmelt wurden, während die Legende des "väterlichen Retters" auferstand: Nichts zeigt dies deutlicher als die Leidenschaft, mit der Millionen von Ägyptern General Abdel Fattah al-Sisi anhimmeln und in ihm den Befreier sehen, der die Nation vor dem sicheren Garaus retten wird.
Das Verfassungsreferendum hat jedoch auch die Idee des "Generationenkriegs" erneuert und mit aller Deutlichkeit auf den Plan gebracht; denn es ist kein Geheimnis, dass viele jüngere Leute darauf verzichtet haben, von ihrem Stimmrecht Gebrauch zu machen.
Gründe für die Wahlabstinenz gab es genug: Skepsis gegenüber den derzeitigen Entwicklungen, allgemeine Politikverdrossenheit oder die Tatsache, dass im Auge vieler die Schwergewichte im ägyptischen Machtkampf – das Militär und die Muslimbrüder – keine sonderlich verlockende Alternative darstellen.
Postwendend begann der Propagandaapparat der neuen Machthaber gegen die Jugendlichen zu feuern; von einer verantwortungslosen und unpatriotischen Generation war die Rede, bis die Weisung erging, den Kurs zu ändern und Wege zu suchen, diese widerspenstige Gruppe irgendwie ins komplizierte Kalkül eines nationalen Gleichgewichts einzubinden.Es steht noch dahin, ob die jungen Revolutionäre, die von Anfang an die treibende Kraft des Widerstands waren und dafür einen hohen Preis zahlten, es zulassen werden, dass ihr Freiheitstraum in einen Albtraum verkehrt wird.
Ob dies verhindert werden kann, hängt aber nicht zuletzt von ihrer Fähigkeit ab, ihre Reihen so weit zu schließen, dass sie als politische Akteure von Gewicht auftreten können; und das wäre nur aufgrund schonungsloser Selbstkritik und einer Einsicht in die Fehler möglich, infolge deren der Impetus von Millionen Demonstranten nie zu einer politischen Kraft amalgamiert werden konnte, welche die Ziele der Revolution selbst umsetzt, statt von anderen die Erfüllung ihrer Hoffnungen zu erwarten.
Auf der anderen Seite stehen die Muslimbrüder – oder das, was nach der Verhaftungswelle der letzten Monate von ihrer Organisation noch übrig ist. Auch sie müssten gründlich über die Bücher gehen, scheinen sich aber auf die Reue darüber zu beschränken, dass sie ihre Machtbefugnisse nicht noch handfester durchgesetzt hatten.
Zudem schwanken sie zwischen der selbstgewissen Behauptung, dass ihre Popularität keinen Schaden genommen habe, und wütenden Anklagen gegen das "ungläubige Volk", das sich von ihnen abwendet. In dieser Hinsicht ist die Parole bedeutsam, die demonstrierende Muslimbrüder in letzter Zeit dem "Volk" entgegenschleuderten: "Wir werden euch befreien, ob ihr es wollt oder nicht!" Kein Wunder, dass die Angesprochenen öfters mit Handgreiflichkeiten reagierten.
Die derzeitige Verfolgung der Muslimbrüder, die Inhaftierung führender Persönlichkeiten ihrer Organisation und der massive Popularitätsschwund, den sie infolge ihrer miserablen Regierungsführung erlitten, bedeuten jedoch nicht, dass sie ganz von der Bildfläche verschwinden werden.
An ihrem Fortbestehen haben nicht nur die Muslimbrüder selbst, sondern auch die derzeitigen Machthaber ein Interesse; denn so, wie jedes repressive Regime einen Gegner wie die Muslimbrüder benötigt, um seine Mechanismen zu rechtfertigen, so benötigen auch die Muslimbrüder den Druck von oben, um nach jeder Heimsuchung wieder aus der Asche zu auferstehen.
Kein Platz für die Opfer der Revolution
Erstaunlich ist, wie selten die Porträts oder Namen der über tausend Menschen, die im August bei der Räumung der Protestlager der Muslimbrüder den Tod fanden, in deren Demonstrationszügen oder in ihren Graffiti auftauchen. Sie schrumpfen zu einer bloßen Zahl, die von der Organisation auf befremdliche Art totgeschwiegen wird, während sich das Interesse der Muslimbrüder auf eine einzige Person fokussiert: ihren inhaftierten Präsidenten Mursi. Oder eher auf zwei Personen – denn General al-Sisi beschäftigt die Muslimbrüder genauso sehr, wenn auch auf gegenteilige Art und Weise.
In ihrem Weltbild gibt es zwischen dem geliebten Mursi und seinem verhassten Kontrahenten keinen Raum für andere. So müssen ihre Toten wie die anderen Opfer des politischen Umbruchs einstweilen auf die Stunde warten, da ihr Schicksal vor einem fairen Gericht verhandelt wird. Der mit solchen Aufgaben betraute Minister der neuen Regierung hat kundgetan, der jetzige Zeitpunkt sei für solche Anstrengungen nicht geeignet; stillschweigend gibt er damit zu, dass es generell keine sonderlich gute Zeit für die Gerechtigkeit ist.
Man hat wenig Grund zur Hoffnung – es sei denn, es formierten sich signifikante Kräfte außerhalb des gegenwärtigen, polarisierten Spannungsfelds. Kräfte, die sich nicht mehr mit schallenden, doch hohltönenden Parolen begnügen, sondern die sich im Rahmen eines klaren und begrenzten politischen Programms für die ursprünglichen Ziele der Revolution einsetzen würden.
Mansura Eseddin
© Neue Zürcher Zeitung 2014
Mansura Eseddin, 1976 im Nildelta geboren, ist Schriftstellerin und Journalistin. Sie arbeitet bei der bekannten Literaturzeitschrift „Akhbar al-Adab“. Auf Deutsch ist ihr Roman „Hinter dem Paradies“ erhältlich.
Aus dem Arabischen von Angela Schader