Die Rückkehr der alten Ordnung

Die arabische Welt ist zu ihrer alten Ordnung zurückgekehrt. Die autokratischen Herrscher sind noch repressiver geworden. Das zeigt sich spätestens bei der Rehabilitierung des verbrecherischen Assad-Regimes. Ein Essay des marokkanischen Publizisten Ali Anouzla 

Essay von Ali Anouzla

Zwölf Jahre nach Beginn des "Arabischen Frühlings“ sehen wir heute eine Region Naher Osten und Nordafrika, die geprägt ist von anhaltenden Machtkämpfen und gescheiterten oder vom Scheitern bedrohten Staaten. Dass die arabische Welt zu ihrer alten Ordnung zurückgekehrt ist und ihre Regime noch unnachgiebiger und repressiver über ihre Völker herrschen als je zuvor, zeigte sich spätestens in den Rufen nach einer Rehabilitierung des verbrecherischen Regimes von Baschar al-Assad, das Hundertausende Syrer getötet und Millionen in die Flucht getrieben hat. 

Der "Arabische Frühling“ hatte mit der Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi begonnen, einem tragischen Akt höchster Hoffnungslosigkeit. Heute jedoch vermögen ähnliche Taten kaum noch eine Wirkung zu entfalten, wie die jüngsten Ereignisse in Tunesien und Marokko gezeigt haben. Dort zündeten sich zwei Künstler selbst an und starben, ohne dass ihr Protest ein nennenswertes Echo gefunden hätte.

Was einst Ausdruck von Wut war und die arabische Öffentlichkeit bewegte, ist zu einer reinen Verzweiflungstat geworden, deren Akteure bedauert und bemitleidet werden. Wie konnte das geschehen? 

Der "Arabische Frühling“ hatte Hoffnungen geweckt und wurde als bedeutender Wendepunkt in der Geschichte der Region beschrieben. Aus heutiger Sicht war er jedoch eine historische Katastrophe, die das Leben der Menschen auf den Kopf gestellt und zu Krieg, Konflikten, Umstürzen, Tod und Inhaftierungen geführt hat.

Kundgebung für Pressefreiheit in Algerien September 2020: Foto: Laetitia Ammi/abaca/pictutre-alliance
Pressefreiheit unter Druck: In Algerien haben sich die Spielräume für Medien und Journalisten verengt, vor allem seitdem Präsident Abdelmadjid Tebboune im Dezember 2019 an die Macht kam. Eine Reform des Strafrechts stellte 2020 die "Verbreitung von Falschnachrichten und Hass-Botschaften“ unter Strafe, die geeignet sind, die "nationale Sicherheit und Ordnung“ oder die "staatliche Sicherheit und nationale Einheit“ zu gefährden. Es drohen Haftstrafen von bis zu drei Jahren. Nach Angaben der Organisation Reporter ohne Grenzen würden die neuen Bestimmungen dazu benutzt, Journalisten zu verfolgen und zu verurteilen. Zensur und Selbst-Zensur in den Medien sind die Folgen.



Gleichzeitig geht es vielen arabischen Staaten heute schlechter als vorher. Die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse sind schwierig, die Staatsverschuldung steigt, einige Länder sind bankrott oder bekommen keine Kredite mehr, ohne sich dem Diktat der internationalen Gläubiger zu beugen. Vielerorts herrscht Instabilität.



In vielen Hauptstädten sitzen autokratische Regime an den Schalthebeln der Macht, die Menschen sind verunsichert und die Jugend leidet unter Arbeits- und Perspektivlosigkeit. 

Sehnsucht nach Restauration

Zu Beginn des "Arabischen Frühlings“ herrschte Hoffnung und die Völker sahen die Zeit gekommen, ihr Schicksal wieder selbst in die Hand zu nehmen. Doch stattdessen wurde ihr Leiden unter Repression und Armut nur verlängert.



Wie konnte das geschehen? Was wir heute in mehreren arabischen Staaten sehen, ist das Ergebnis einer Konterrevolution, die seit mehr als einem Jahrzehnt von den Golfstaaten geplant und finanziert und von ihren Komplizen aus den Überresten der gestürzten Regime mit diktatorischer und autokratischer Macht ausgeführt wird.

Es begann mit der Militarisierung der Protestbewegungen in Syrien, Libyen und im Jemen, die in zerstörerischen Bürgerkriegen, regionalen und ethnischen Konflikten mündete. Sie verursachten massive Zerstörung, kosteten Hunderttausende das Leben und trieben Millionen von Menschen in die Flucht.

Der erste und wichtigste Sieg der Konterrevolution war der Militärputsch von al-Sisi gegen die erste zivile Regierung in der Geschichte Ägyptens. Nach zehn Jahren Militärherrschaft sehen wir heute die katastrophalen Folgen seiner Politik in allen Bereichen und die Ägypter leiden doppelt unter Repression und Armut.

 

 

Nirgendwo auf der Welt gibt es mehr politische Gefangene, eine beispiellose Wirtschaftskrise hat zu einer Erosion des Lebensstandards geführt. Auch in Tunesien, dem Ausgangspunkt des "Arabischen Frühlings“ und dem Land, das sich am längsten der Konterrevolution widersetzen konnte, sehen wir einen Rückfall in die Autokratie unter der Herrschaft eines politisch nicht zurechnungsfähigen Präsidenten, der das Land an den Rand des Abgrunds führt. 

Alte Machhaber in neuer Stärke

Neben dem Staatsstreich in Ägypten und den Rückschritten in Tunesien haben viele arabische Staaten Tragödien, Kriege, Spaltung, Unruhen, Repressionen und Wirtschaftskrisen erlebt, sodass die Menschen sich heute nach den alten Regimen zurücksehnen. Denn die Regime, die die Protestbewegungen überlebt haben, herrschen heute noch brutaler als zuvor.



Die Machthaber, die von ihren Völkern gestürzt wurden, konnten trotz - oder dank - all der Verbrechen, die sie an ihren Völkern begangen haben, in neuer Stärke zurückkehren.  

Die arabische Welt ist zu ihrer alten Ordnung zurückgekehrt und die Regime sind noch unnachgiebiger und repressiver gegenüber ihren Landsleuten. Dies zeigt sich spätestens in den Rufen nach Rehabilitierung des verbrecherischen Regimes von Baschar al-Assad, das Millionen Syrer entweder getötet oder in die Flucht getrieben hat. 

Die vielen Millionen Menschen, die vor zwölf Jahren in den arabischen Hauptstädten für Freiheit, Würde und Gerechtigkeit auf die Straße gingen, sind noch immer da. Aber ihre Situation und der Zustand ihrer Länder sind heute schlechter als damals. Die korrupten Regime, deren Sturz die Demonstranten damals forderten, sind nach wie vor an der Macht oder sogar noch stärker und autoritärer geworden. 



Unter den Menschen herrschen Angst und Verzweiflung. Es gibt kein Vertrauen mehr, keine Träume. Deshalb geht heute niemand mehr auf die Straße, um seiner Wut und Unzufriedenheit über die Situation Ausdruck zu verleihen.

So far, the #UAE, #Jordan, #Egypt & #Saudi have undertaken substantive moves to re-engage #Assad's regime in #Syria.



All have privately &/or publicly justified this as being driven by a desire to compete w. #Iran, stabilize #Syria, secure refugee returns, end drug flows & more.

— Charles Lister (@Charles_Lister) April 13, 2023

 

 

Es herrschen Wut und Verzweiflung

Deshalb arrangiert man sich mit Korruption und Repression. Die meisten Menschen haben begriffen, dass Regierungen und Herrscher längst ihre Legitimität verwirkt haben. Diese sind sich bewusst, dass die Abneigung gegen Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Armut immer noch da ist.

Diese Abneigung gegen die Machthaber wird weiter bestehen, je mehr sich die Lage verschlimmert. Eines Tages wird die Geduld erschöpft sein und die Wütenden und Unzufriedenen werden wieder auf die Straße gehen und die gleichen Forderungen erheben. Sie werden aber aus den gescheiterten Revolutionen ebenso gelernt haben wie aus den Konterrevolutionen, die ihre Träume gestohlen haben. Dies sollte eine Warnung für diejenigen sein, die sich über den Sieg der Konterrevolutionen freuen. Nichts ist für die Ewigkeit. 

Überall auf der Welt erleben wir, wie Stabilität und Frieden durch Krisen, Kriege und Konflikte erschüttert werden, mit katastrophalen Folgen für die Weltwirtschaft. Wir sehen die verheerenden Auswirkungen des Klimawandels in Form von Dürren, Überschwemmungen und der Ausbreitung gefährlicher Epidemien, die die Existenz der Menschheit auf der Erde bedrohen.



Vor diesem Hintergrund sind sich selbst die größten Optimisten einig, dass sich die globale Lage in den kommenden Jahren noch verschärfen und verkomplizieren wird. Die arabische Welt ist von diesem tragischen Schicksal nicht ausgenommen. 

Ali Anouzla 

© Qantara.de 2023 

Ali Anouzla ist ein marokkanischer Autor und Journalist sowie Chefredakteur der Website "Lakome". Er hat mehrere marokkanische Zeitungen gegründet und redaktionell geleitet. 2014 erhielt er den Preis "Leaders for Democracy" der amerikanischen Organisation POMED (Project on Middle East Democracy). 

Aus dem Arabischen übersetzt von Daniel Falk