Gereizte Stimmung

Im Schatten der Auseinandersetzungen mit der PKK fand Ende Oktober das 44. Antalya-Film-Festival statt. Fatih Akin bekam mehrere Preise. Die Dokumentarfilmer gingen "mangels Qualität" leer aus.

Von Amin Farzanefar

Letztes Jahr waren es islamistische Anschläge im Urlaubsort Antalya, dieses Jahr sorgte die PKK dafür, dass Autos und Gepäck durchleuchtet und die Besucher abgetastet wurden.

Gleich auf mehrfacher Ebene wurde das 44. Antalya-Film-Festival zum Spiegel der Gesellschaft. Dem turbokapitalistischen Trend und dem sagenhaften Wirtschaftswachstum entspringt wohl das Verlangen, hinsichtlich Glamour und Prominenz Cannes den Rang abzulaufen – und so tummelten sich an der Promenade Francis Ford Coppola, Shekar Kapur, Nicholas Roeg, Miranda Richardson, Sophie Marceau u. a.

Durch den Relaunch vor drei Jahren wurde das vormals in der Stadtbevölkerung so beliebte Festival zu einem Großereignis, das nun Gefahr läuft, unter Ausschluss des Publikums stattzufinden.

Knastleben als Komödie

Eine andere Art von Zwangsgemeinschaft präsentierte der Film "Bayrampascha" von Hamdi Alkan, der in dem gleichnamigen Gefängnis spielt. Das Drehbuch entstand in Zusammenarbeit mit Gefängnisinsassen und erzählt von den Nöten eines kleinen Jedermann, der unschuldig hinter Gitter gerät. Die Mühlen der Bürokratie verhindern die zügige Aufklärung eines Justizirrtums, und Held wie Zuschauer haben Zeit genug, sich im Milieu umzuschauen.

​​Wider Erwarten wurde das heikle Thema "türkische Haftanstalt" als Komödie angelegt und konnte vielleicht gerade in der satirischen Überspitzung die Härten des Knastlebens ungeahndet zur Sprache bringen. Allenfalls von "Autozensur" wollte Drehbuch-Koordinator Haluk Ünal sprechen.

Andere düstere Seiten der Republik wurden schonungsloser thematisiert: Gleich drei Filme widmeten sich dem Thema Ehrenmord. Während "Mutluluk" (Glück) von Abdullah Oguz und "Janjan" von Aydin Sayman in letzter Minute die Wendung ins Positive schaffen, verweigert "Sakli Yüzler" (Hidden Faces), der lang erwartete neue Film von Handan Ipekci, weitgehend Lichtblicke.

Ausgerechnet auf der Leinwand, während der Duisburger Dokumentarfilmtage, entdeckt Ali, dass seine Nichte Zühre unter neuem Namen immer noch lebt - und bricht auf, um nach fünf Jahren die "Familienehre" wiederherzustellen.

Der transkontinentale Brückenschlag mag an dem auf beiden Seiten virulenten Thema liegen, und an einer neu entdeckten deutsch-türkischen Nähe, nahe liegend sind aber auch praktischere Gründe: Fördermittel für solche Koproduktionen.

Dramaturgische Schwächen

Ein Ziel des Festivals ist schließlich auch, über ausländische Beihilfen das heimische Filmschaffen anzukurbeln. Finanzhilfe alleine reicht allerdings nicht aus, wie sich an Ipekcis Film zeigt, der deutlich hinter den Erwartungen zurückblieb.

Trotz des weitgehend packend und differenziert gezeichneten Themas waren bei "Hidden Faces" überflüssige Längen und Wiederholungen unübersehbar. Dahinter steht ein strukturelles Problem – Schreibschwäche:

Das türkische Kino konnte zwar in den letzten Jahren sein technisches Niveau beachtlich steigern, es verfügt über ein Heer an Schauspieltalenten und es hat frische, unverbrauchte Themen anzubieten; dennoch fehlen dramaturgische Grundkenntnisse, die in Deutschland jeder Filmstudent beherrscht.

Mit einem zeitgemäßen, kultureigenen Pragmatismus und Aufbruchwillen stellen sich die türkischen Filmschaffenden diesem Fehler und nutzen begeistert die Festival-Workshops mit internationalen Scriptwriting-Größen wie Olivier Leforelle und Jacques Deschamps.

Eine Handvoll international renommierter Filmemacher hat solche Nachhilfe nicht mehr nötig: Der diesjährige Gewinner der "Goldenen Orange", Semih Kaplanoglu, stammt aus dem Umfeld der Cannes-Veteranen Nuri Bilge Ceylan und Zeki Demirkubuz.

Blick ins Seelenleben

Kaplanoglus "Yumurta" (Egg) ist eine Komposition auf der Kinoleinwand - ein Schwelgen in Farben und ländlicher Kulisse. "Egg" ist der letzte - jedoch zuerst abgedrehte - Teil einer Trilogie, die um die Figur des Yusuf kreist.

Nach dem Tod seiner Mutter kehrt der ehemalige Poet in sein Heimatdorf zurück und trifft dort auf die junge Ayla. Und während er sich erinnert - an die Mutter, an früher - und dabei die Landschaft erkundet, alleine oder mit ihr, beobachtet der Zuschauer, wie ein Paar zusammenfindet - ohne die vielen Worte, die es sonst reichlich gibt im türkischen Film.

In dieser Vorliebe fürs Idyll merkt man Kaplanoglu seine Verehrung für Kiarostamis lakonisch-ironische Landschaftsgemälde an. Doch ähnlich wie Bilge Ceylan ("Iklimler") oder Zeki Demirkubuz umkreist auch dieser Autorenfilmer das Seelenleben seiner introvertierten Charaktere. Die äußere Wirklichkeit schert ihn denkbar wenig.

Zurück in die Gegenwart von Antalya 2007 holte einen dann die Entscheidung der Dokumentarfilm-Jury ein, keinen Preis zu vergeben. Der Grund, ein behaupteter "Mangel an Qualität", verwundert: Selten waren so viele ambitionierte Themen auf dem Tapet.

Politik auf der Kinoleinwand

Gleich zwei Filme befassten sich mit den unzumutbaren Arbeitsbedingungen in den Minen, und Necati Sönmez erinnerte an die 712 Opfer der bis 2002 verhängten Todesstrafe. Zwei Dokumentationen widmeten sich detailliert, mit viel Archivmaterial und Augenzeugenberichten, an vergessene oder verdrängte Kapitel des Kurdenkonfliktes.

So erinnerte Cayan Demirels "38" an den Tunceli-Aufstand von 1938, der insgesamt 70.000 Menschenleben kostete. Faktische Annäherung an ein ideologisch vermintes Gelände war möglicherweise zuviel für diese Jury.

Die Stimmung - im Umfeld des 84. Jahrestags der Republikgründung - war gereizt genug. Hinter der Hand wurde geraunt, es hätte Überlegungen gegeben, das Festival abzusagen, letztendlich verzichtete man während der Trauerzeit um die 16 gefallenen Soldaten auf laute Feierlichkeiten.

Fatih Akin entschuldigte persönlich die Absage seiner Premierenparty, hatte aber andernorts genug zu feiern: "Auf der anderen Seite" wurde mit einem wahren Preisregen überschüttet, u.a. für Schnitt, beste weibliche und beste männliche Nebenrolle, und Akin erhielt verdientermaßen den Preis für die beste Regie.

Dabei wurde der in Deutschland bejubelte Film durchaus kontrovers besprochen – die direkte politische Sprache, die offene Kritik an der türkischen Linken und eine "touristische" Darstellung der Türkei erschienen den Intellektuellen als anstößig.

Dann, am Startwochenende verbuchte er mit 65.000 Zuschauern das zweitbeste Einspielergebnis; inzwischen fragt niemand mehr, was ein deutscher Film im türkischen Wettbewerb verloren hat.

Amin Farzanefar

© Qantara.de 2007

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