Der jüngste Detektiv von Dschabaliya

Der Debütroman des palästinensischen Autors Ahmed Masoud ist eine nuancierte Chronik einer besonders notleidenden Region der Welt. Er handelt von den Nachforschungen eines Jungen und thematisiert dabei im besetzten Gazastreifen die Lage der Kinder, die viel zu früh erwachsen werden müssen. Von Nahrain Al-Mousawi

Von Nahrain al-Mousawi

Omar, der Protagonist des Romans, reist aus London, wo er mittlerweile wohnt, zurück nach Gaza. Währenddessen hält er die Geschichte seiner Familie in einem eigens dazu gekauften Notizbuch fest. Ihn treibt die Angst um, seinem Sohn könne es so ergehen wie ihm selbst, der die meiste Zeit seines Lebens auf der Suche nach seinen Wurzeln war.

Die schwierige Reise in das besetzte Gebiet ist für Omar auch eine Zeitreise in seine Kindheit. Er weiß, dass seine Rückkehr gefährlich werden könnte und dass er seinen Sohn möglicherweise nie wiedersehen wird. So notiert er im Notizbuch seine Erzählungen in Briefform. Seinen ersten Brief beginnt er mit: "Mein lieber Mustafa, ich weiß gar nicht recht, wo ich beginnen soll. Eines Tages wirst du erwachsen sein und möglicherweise wirst du diese Briefe gar nicht lesen müssen, da wir zusammen sind und ich dir die ganze Geschichte selbst erzählen kann."

Omar scheut vor schmerzhaften Wahrheiten nicht zurück: Als Kind wurde er einst zur Kollaboration gezwungen. Ein berüchtigter Offizier der israelischen Armee vergewaltigte ihn. Er selbst erklärte sich "mit acht Jahren zum jüngsten Detektiv des Flüchtlingslagers Dschabaliya", um das Verschwinden seines Vaters aufzuklären.

Omars Vater verschwand in den 1980er Jahren. Damals war Omar noch ein Kleinkind. Niemand scheint etwas darüber zu wissen. Omars Mutter hütet offensichtlich ein Geheimnis hinter ihrem gequälten Lächeln. Doch sie gibt sich ahnungslos. Gemeinsam mit seinem Freund stellt Omar eigene Nachforschungen an. So entsteht ein Text, der sich gleichzeitig wie ein Krimi, ein Bildungsroman und eine Geschichtschronik über die Zeit im belagerten Gazastreifen vor und nach dem Oslo-Abkommen liest.

Aneinanderreihung von Traumata

In Ahmed Masouds Debütroman "Vanished: The Mysterious Disappearance of Mustafa Ouda" (zu Deutsch: Verschollen: Das geheimnisvolle Verschwinden von Mustafa Ouda) dreht sich die Handlung vordergründig um ein Kind, das sich die schwere Bürde aufhalste, im besetzten Gazastreifen das Verschwinden seines Vaters aufzuklären. Ausgerechnet in einem der am schlimmsten verwüsteten Gebiete der Welt. Im Grunde ist der Roman aber eine Reflexion über die Art und Weise, wie Kinder dort gezwungen sind, viel zu früh erwachsen zu werden.

Ahmed Masoud′s novel ″Vanished: The Mysterious Disappearance of Mustafa Ouda″ (published in 2015 by Rimal Publications)
Born in 1981 in the Gaza strip, Ahmed Masoud, writer, director and academic is now based in the UK. In addition to ″Vanished: The Mysterious Disappearance of Mustafa Ouda″, Masoud has written a radio play for BBC Radio 4 (″Escape from Gaza″), as well as a number of articles for academic and mainstream publications

In Omars Kindheit häufen sich traumatische Ereignisse: Auf der Suche nach seinem verschwundenen Vater gerät Omar in die Gewalt des Militärkommandanten Uri, der ihn zur Kollaboration gegen seine eigenen Landsleute zwingt und den Jungen missbraucht.

Und sein Trauma nimmt kein Ende: Beim Steinewerfen schießen israelische Soldaten dem kleinen Omar ins Bein. Unter dem Druck, sich der Widerstandsbewegung anzuschließen, wird er von seiner Mutter getrennt.

Was dem Leser eine mörderische, kraftraubende und niederschmetternde Lektüre sein müsste, liest sich jedoch viel zu schnell. Es gibt traumatische Ereignisse, die nur mit wenigen kurzen Sätzen gestreift werden.

Wenn Traumata frische Wunden aufreißen

Es ist sicher verständlich, dass Masoud versucht, die palästinensische Unbeugsamkeit und Härte angesichts der unvorstellbaren Leiden und Nöte durch eine knappe und schlichte Erzählweise des Protagonisten wiederzugeben. Aber ein Innehalten, das die Traumata des jungen Omar nachhallen lässt, wäre angemessen gewesen.

Obwohl er noch ein Kind ist, schließt sich Omar beispielsweise dem Widerstand an, da er durch die Umstände dazu gezwungen wird. Doch dass er seine Aufträge talentiert und gewieft ausführt, wird in keinen Zusammenhang mit diesen Traumata gebracht. Auch nicht mit seinem Gerechtigkeitssinn, der aus den Traumata erwuchs.

Masoud hastet durch diese Zeit in Omars Leben. Die erfolgreiche Tätigkeit Omars für die Widerstandsbewegung wird daher auf die scheinbar natürliche Courage und Tapferkeit des Kindes zurückgeführt.

Sicher unterstützt eine schnelle und handlungsorientierte Erzählung das Ziel, die Geheimnisse zu entschlüsseln. Aber spätestens wenn unfassbare Traumata frische Wunden aufreißen, fragt man sich, warum die Erzählung durch diese Erlebnisse hindurchfegt, anstatt diese mit den Motiven des Protagonisten zu verknüpfen. Der Protagonist und sein Erzähler scheinen so weit zurückzublicken, dass sie keine Augen für ihre aktuelle Befindlichkeit haben: traumatisiert, verletzt und – zu einem gewissen Grad – geschwächt.

Historische Perspektive

Der Roman gibt Einblick in die Zeit vor und nach dem Osloer Abkommen 1993. Er zeichnet ein Bild der voreiligen Hochstimmung, die die Menschen von Gaza damals ergriff. Er behandelt auch die Zeit nach dem Abkommen, als sich die Gesellschaft weiter aufspaltet, Ernüchterung einzieht und die Unzufriedenheit mit Fatah – ebenso wie mit der neu gegründeten Palästinensischen Autonomiebehörde – wächst, worauf die Unterstützung der Hamas zunimmt.

Der Roman sieht die Palästinensische Autonomiebehörde kritisch als repressive Kraft, die die Befehle der israelischen Regierung ausführt und mehr Zwiespalt und Querelen sät, als man zu Beginn ihrer Gründung für denkbar hielt. Der Roman hält auch die ersten Bombenangriffe auf Gaza fest. Ebenso wie die damit geschürte Angst, Lähmung und Enttäuschung als Faktoren, die die Unterstützung von Hamas wachsen lassen.

Der Spannungsbogen und die Auflösung am Ende, als die Geheimnisse gelüftet werden, sind gelungen aufgebaut. Das Thema Kollaboration zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman und macht deutlich, dass jede Verwundbarkeit oder Schwäche von den Besatzern ausgenutzt wird, Palästinenser zu erpressen und zur Kollaboration zu zwingen: Alkohol trinken am Strand – unter Teenagern an der Tagesordnung. Ausreisepapiere beschaffen, um Kindern lebensrettende Operationen zu ermöglichen. Oder eben auch Nachforschungen zum Verbleib des eigenen Vaters anstellen. Diese anderswo normalen Vorgänge werden genutzt, um Palästinenser auf Generationen hinaus in ein Leben aus Gewalt und Verrat zu zwingen.

Omar erfährt von verschiedenen Seiten Rettung. Doch sein Nachbar Um Marwan, der den verschwundenen Vater kannte, ist sein Retter Nr. 1. Er rettet ihm nicht nur das Leben, sondern lindert auch die Verletzungen seiner Seele – sowohl als Kind als auch als Erwachsener. Alle weiblichen Charaktere werden realistisch und facettenreich dargestellt. Als stark und verletzlich, als aufopferungsvoll und eigensüchtig, als wahrhaftig und doppelzüngig. Sie sind ebenso komplex wie das besetzte Gebiet, in dem sie leben.

Dem Roman hätte ein intensiveres Lektorat gut getan, um einige schiefe Ausdrücke zu vermeiden, wie "Nägel liefen durch mein Herz", "ein Loch in der Mitte unserer Familie" und "ein Sortiment von Sorten". Ungeachtet dieser Schwächen ist der Roman jedoch eine nuancierte Chronik einer notleidenden, verwüsteten und besetzten Region dieser Erde. Und er ist ein spannungsgeladenes, traditionelles Rätsel. Geschildert mit sozialem Realismus, der die Erzählung in der Kultur und Geschichte verankert, in der er spielt. So wird versucht, deren Geheimnisse zu enträtseln – ebenso wie der Protagonist versucht, dies mit den Geheimnissen seiner Familie zu tun.

Nahrain al-Mousawi

© Qantara.de 2016

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers

Ahmed Masoud: "Vanished. The Mysterious Disappearance of Mustafa Ouda", Rimal Publications, Limassol 2015, 204 Seiten, ISBN: 978-9963-715-13-8