Mit Kanonen auf Spatzen
Am 24. November 2017 erlebte Ägypten den bis dahin schlimmsten Terrorangriff seiner jüngeren Geschichte. Der Anschlag ereignete sich in der Stadt Bir al-Abed auf der nördlichen Sinai-Halbinsel. Dutzende Kämpfer der Gruppe "Wilayat Sinai", die mit dem "Islamischen Staat" verbunden ist, umstellten die dortige Rawda-Moschee und eröffneten wahllos das Feuer auf die Gläubigen. Nach dem Massaker waren 305 Menschen tot, darunter 27 Kinder.
Als Reaktion auf diesen Angriff versprach Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi, den Aufstand, der den Sinai bereits seit 2001 unsicher macht, mit "brutaler Gewalt" zu beenden. Dazu rief er ein Militärprogramm namens Operation Sinai 2018 ins Leben. Die ägyptischen Streitkräfte schnitten die großen Städte und Straßen des nördlichen Sinai von der Außenwelt ab, führten Luftangriffe durch, kontrollierten die Meerwege und setzten auf eine umfassende elektronische Überwachung der Kommunikation. Seit das Programm zu Beginn dieses Jahres eingeführt wurde, konnten sie – laut eigenen Angaben – bereits über 450 Aufständische töten.
Die ägyptische Regierung bezeichnete ihr Programm "Sinai 2018" denn auch als "entscheidenden Schlag" gegen die Dschihadisten im Nordsinai. Kritiker hingegen meinen, die Militäraktion sei lediglich ein weiterer gescheiterter Versuch, die Krise mit militärischen Mitteln in den Griff zu bekommen.
Immer tiefer in den militärischen Konflikt
Doch trotz des neuen Anti-Terrorkampfs geht der dschihadistische Aufstand weiter. Ein ägyptischer Militärexperte, der mit Qantara.de über das Programm sprach und anonym bleiben wollte, sagte, der Kampf habe den Gegner "nur noch tiefer in die Militanz getrieben".
Allein in den ersten beiden Novemberwochen erklärte sich "Wilayat Sinai" für acht verschiedene Anschläge im Nordsinai verantwortlich. Am 15. November veröffentlichte die Gruppe ein 42-minütiges Video, das ihre jüngsten Aktionen dokumentiert. Die Bilder zeigen Sprengstoffattentate auf Soldaten, Kontrollpunkte dschihadistischer Milizen im Nordsinai und einen M60-Patton-Panzer aus US-amerikanischer Produktion, den die Gruppe vermutlich von ägyptischen Sicherheitskräften erbeutet hat.
Die Angaben der ägyptischen Regierung über die Anzahl der getöteten "Wilayat-Sinai"-Kämpfer könnten auf den Grund hindeuten, warum es weiterhin so viele Anschläge gibt. Angeblich hat die Regierung in den letzten sechs Jahren viel mehr Aufständische getötet als die 1.000 Kämpfer, die zu Wilayat Sinai gehören. "Die ägyptischen Sicherheitskräfte neigen dazu, militärische Erfolge zu beschönigen und Misserfolge zu kaschieren, indem sie die Anzahl der getöteten Gegner faken", so der ägyptische Militärexperte. "Dass sie angeblich mehr als die Hälfte der dschihadistischen Aufständischen getötet haben, finde ich kaum vorstellbar."
Es existieren zwar kaum verlässliche Statistiken, aber klar ist, dass dieses Jahr im Nordsinai sehr schwer gekämpft wurde. Laut Untersuchungen der ägyptischen Armee und Veröffentlichungen des Innenministeriums wurden zwischen Januar und Juni im Kampf gegen den Terror 120 ägyptische Sicherheitskräfte getötet, die meisten von ihnen fielen im nördlichen Sinai.
Führende Terroristen zu töten ist ineffektiv
Mit ihrem Programm "Sinai 2018" war die ägyptische Regierung teilweise erfolgreich – insbesondere im Kampf gegen führende Mitglieder von "Wilayat Sinai". In dem am 15. November veröffentlichten Video bestätigte die Gruppe den Tod ihres ehemaligen Anführers Abu Osama al-Masri, der wahrscheinlich einem Luftangriff zum Opfer fiel. Und bereits im August 2016 war Al-Masris Vorgänger Abu Duaa al-Ansari durch einen israelischen Luftschlag getötet worden.
"Der ägyptische Geheimdienst ist bei seinem Versuch, führende Mitglieder der 'Wilayat Sinai' auszuschalten, durchaus erfolgreich gewesen", meint Zack Gold, Analyst am Institute for Security Studies. "Aber die Frage ist, welchen Effekt es wirklich hat, die Anführer der Terrorgruppe zu töten. Verliert die Gruppe wirklich ihre Führung, wenn man deren Anführer ausschaltet, und beeinträchtigt dies wirklich langfristig ihre Möglichkeiten? Ich muss sagen, dass ich auch danach kaum einen Unterschied feststelle. Warum ist die 'Wilayat Sinai' immer noch in der Lage, fast täglich Sprengstoffanschläge zu verüben?"
Während "Wilayat Sinai" im nördlichen Sinai immer noch aktiv ist, leiden auch andere Landsteile Ägyptens unter den Angriffen der Dschihadisten, die eng mit dem "Islamischen Staat" verbunden sind. Im ganzen Land gab es Anschläge, insbesondere auf Christen, und überall wurden Mitglieder solcher Gruppen verhaftet.
Die ägyptische Regierung hat versucht zu zeigen, dass ihre Sinai-Strategie nicht allein aus Militäraktionen besteht. Am 8. November stellten die Streitkräfte ein Projekt vor, mit dem in der Wüste des Sinai hundert neue Häuser gebaut werden sollen. Allerdings hat die Armee bisher im Sinai deutlich mehr Häuser zerstört als neue gebaut. 2014 wurden tausende Häuser dem Erdboden gleich gemacht, um an der Grenze zu Gaza eine 79 Quadratkilometer große Sicherheitspufferzone zu schaffen, zu der auch die Stadt Rafah im Nordsinai gehört.
"Ein selbstzerstörerischer Sicherheitsplan"
Laut Human Rights Watch hat die Armee seit vergangenen Februar die Zerstörung von Häusern, Gewerbegebieten und Landwirtschaftsbetrieben im Nordsinai „enorm ausgeweitet“. „Wenn man die Häuser der Menschen abreißt, ist dies Teil desselben selbstzerstörerischen Sicherheitsplans, mit dem bereits zuvor Lebensmittelversorgung und Bewegungsfreiheit eingeschränkt wurden, um die Bewohner des Sinai zu gängeln“, meint Sarah Leah Whitson, Nahostdirektorin von Human Rights Watch.
Dass das Jahr im Sinai so blutig war, hat auch Auswirkungen auf die westlichen Regierungen, die Ägypten mit großen Mengen an Waffen versorgen. Dies wird – insbesondere im Sinai – mit dem Krieg gegen den Terror gerechtfertigt. Seit die Trump-Regierung an die Macht kam, arbeiten insbesondere die USA enger mit der ägyptischen Regierung zusammen, berichtet Issandr al-Amrani, Direktor des Nordafrikaprojekts der International Crisis Group. Amerika hat die Militärhilfe für Ägypten wiederbelebt und die "Operation Bright Star" neu aufgelegt, eine große gemeinsame Militärübung der beiden Länder.
"Was die Beziehungen zwischen westlichen Ländern und Ägypten angeht, wurde die Lage der Menschenrechte in Ägypten völlig außen vor gelassen", meint Al-Amrani gegenüber Qantara.de. "Der Wunsch nach regionaler Stabilität, der Kampf gegen den IS und – im Fall der Europäer – die Migration haben dazu geführt, dass die Frage nach den Menschenrechten gar nicht erst gestellt wurde."
Beobachter, die die Vorgehensweise der ägyptischen Regierung im Sinai kritisch sehen, sagen, die jüngste Militäraktion laufe darauf hinaus, dass die militärischen Eingriffe dort verdoppelt wurden – eine Strategie, die bereits früher zum Scheitern verurteilt gewesen sei und viele Menschenleben gekostet habe.
"Warum also soll diese Strategie der rohen Gewalt diesmal funktionieren, wenn sie bereits wiederholt gescheitert ist?", fragt Mohannad Sabry, Sinai-Experte und Verfasser des Buches "Sinai: Egypt's Linchpin, Gaza's Lifeline, Israel's Nightmare", in dem es auch um den Konflikt zwischen Staatsmacht und militanten Islamisten auf dem Sinai geht. "Wenn das ägyptische Militär seine konventionellen Aktionen verstärkt, dann ist das höchstens ein Eingeständnis dafür, dass es in den letzten fünf Jahren nichts erreichen konnte", meint er.
Sabry betont, dass die Behörden den Familien der Opfer des Angriffs auf die Rawdah-Moschee im vergangenen Jahr Pensionen versprochen haben. Diese wurden jedoch bis heute nicht ausgezahlt. "Das ist ein deutliches Bespiel dafür, wie das ägyptische Regime über Methoden denkt, die einmal nichts mit brutaler Gewalt zu tun haben."
Tom Stevenson
© Qantara.de 2018
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff