Die Literatur als Kokon
Einmal mehr nimmt der iranische Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan seine Leserinnen und Leser mit zu dem Bruchpunkt der Geschichte seines Landes, jenen Tagen, mit denen er sich schon in vielen seiner Romane, nicht zuletzt seiner gefeierten Teheran-Trilogie, beschäftigt hat: der Zeit der Islamischen Revolution im Jahr 1979.
Doch tatsächlich stehen die politischen Ereignisse diesmal nicht im Mittelpunkt, sondern die Literatur. Jeden Donnerstag traf sich im Gästezimmer der Cheheltans in deren Haus im wohlhabenden Teheraner Norden eine illustre Runde aus Autoren, Übersetzern, Lesern. Über Jahrzehnte hinweg, von den letzten Jahren der Schah-Ära bis zur Reformerperiode unter Mohammad Khatami, wurde dieser "Zirkel der Literaturliebhaber" (so der deutsche Titel, übersetzt von Jutta Himmelreich) zum Fixpunkt für Cheheltan – und auch zum Spiegel der iranischen Gesellschaft.
Ein essayistisches Werk, kein Roman
Eine Feststellung vorab: Der Verlag bezeichnet dieses Buch, wohl der besseren Verkäuflichkeit wegen, als "Roman". Das ist grob irreführend und erweist sowohl dem Autor als auch seinem Publikum einen Bärendienst. Denn es handelt sich um ein Sachbuch. Ein fundiertes essayistisches Werk über persische Literatur, verbunden mit persönlichen Erinnerungen des Autors. Wer einen Roman erwartet, wird zwangsläufig enttäuscht werden; wer hingegen auf der Suche nach einem Sachbuch zum Thema ist, wird Cheheltans verdienstvolles Buch womöglich übersehen. Eine verlegerische Entscheidung, die in keiner Weise nachvollziehbar ist.
Es ist – wieder einmal – ein Buch, das vorerst nur auf Deutsch erscheint. In Iran hätte es zweifellos keine Chance auf eine Publikationserlaubnis. Dabei ist die erwachende Sexualität des Teenagers nur das banalste von zahlreichen Tabuthemen, die Cheheltan sehr offen behandelt.
Darunter auch der kritische Umgang mit der von Konservativen bestimmten Stellung der Frau, die bei den Cheheltans durch einen Rollentausch demonstriert, wie weit die gelebte Realität von den Vorstellungen religiöser Hardliner entfernt ist: Cheheltans Mutter arbeitete als Lehrerin, während sein Vater zu Hause samt Schürze am Herd stand und die Familie bekochte – was er höchst gerne tat, wenn er sich nicht gerade seiner Lieblingsbeschäftigung widmete: dem Lesen.
"Der Westen sieht uns nur von außen"
Das Haus, so ahnt man, muss einer Bibliothek geglichen haben, und die donnerstäglichen stundenlangen Treffen der Literaturliebhaber waren der Höhepunkt jeder Woche. Das wurde dem kleinen Amir Hassan Cheheltan schon früh klar, dessen Neugier auch dadurch geweckt wurde, dass man ihn des Zimmers verwies, wenn Passagen klassischer Dichter debattiert wurden, die eher nicht für kindliche Ohren geeignet sind.
Mit umso größerem Vergnügen widmet sich Cheheltan daher später gerade dem Obszönen und Pornographischen bei Saadi, Rumi und vielen anderen. Elemente, die untrennbar sind von der persischen Literatur, die offiziell heute aber entweder ignoriert oder durch aberwitzige Interpretationen entschärft werden.
Aber auch mit dem Blick von außen geht Cheheltan ins Gericht: Mit den Unmengen an orientalistischen Werken, die jene Klassiker einem westlichen Publikum zu erklären versuchen, und er kommt zu der Erkenntnis, dass "der Westen uns nur von außen" sieht, "nicht von innen.
Seit drei Jahrhunderten versucht dieser, den Osten zu erklären. Gegenwärtig wird durch die sich zuspitzenden Krisen im Mittleren Osten und Phänomene wie die Taliban, Al-Qaida, und ISIS offenkundiger denn je, wie schlecht ihm das gelingt und wie wenig er über uns weiß." Das macht er durchaus schlüssig auch an historischen Beispielen fest, und es wird klar, dass das Reden über den Osten (anstatt mit ihm) das Hauptproblem ist.
Gerade in Bezug auf Rumi, der nicht nur in Iran, sondern weltweit einer der meistübersetzten und meistgelesenen Dichter ist, stellt sich Cheheltan aber generell der Interpretationswut entgegen und zitiert Passagen, in denen Rumi seine Stärke aus der klaren Sprache und aus sehr eindeutigen Bildern und Metaphern zieht, und verweist darauf, dass der Dichter seine Verse zu seinen Lebzeiten vor einfachen Menschen in der Öffentlichkeit vortrug, und dass eine verschlüsselte, verklausulierte Symbolsprache diesem Publikum den Zugang versperrt hätte.
Von den Ansätzen der Mystiker, in jedes Wort versteckte Bedeutungen hineinzulesen, hält er folglich wenig.
Fokus auf homoerotischer Lyrik
Große Aufmerksamkeit widmet Cheheltan der homoerotischen Lyrik, ohne die die klassische persische Literatur undenkbar ist: "Damals war homoerotische Liebe keine Schande. Und man kann das elfte christliche Jahrhundert ohne Übertreibung als Epoche homophiler iranischer Dichter bezeichnen", wofür er eine Vielzahl an Beispielen aufführt, die sich sehr ähnlich auch in der arabischen Literatur finden.
ReaLit Amir: Hassan Cheheltan from Reportagen on Vimeo.
Susani Samarghandi etwa müsse, so Cheheltan, den Vergleich mit De Sade nicht scheuen. Homosexualität, heute tabuisiert und oft gar kriminalisiert, war in der islamischen Welt über Jahrhunderte gelebte Normalität. Der Wandel kam erst – und das thematisiert Cheheltan leider nicht – als Import der lustfeindlichen westlichen Eroberer in den Osten, die ihre verkorkste Sexualmoral mitbrachten.
Fast unmerklich bricht Stück für Stück die politische Realität in den Zirkel der Literaturliebhaber ein, der sich wie in einem Kokon, abgeschlossen von der Außenwelt, wähnt. Erst wird ein Spitzel des Schah-Geheimdienstes SAVAK in der Runde enttarnt, nach der Revolution dann kündigt Cheheltans Mutter ihren Job als Lehrerin, weil sie sonst gezwungen wäre, im Klassenzimmer Tschador zu tragen, und schließlich muss Cheheltan selbst für mehrere Jahre an die Front des Iran-Irak-Krieges.
Endgültig zerrissen wird die vermeintliche Idylle in den Neunzigern, als das neue Regime systematisch Todeslisten erstellt, auf denen die Namen von Schriftstellern und anderen Kulturschaffenden stehen, und diese dann ermorden lässt. "Die das vorantreiben, sind sich bis heute nicht im Klaren darüber, dass alles, was eine Regierung zu ihrem eigenen Nutzen politisiert, sich früher oder später auch politisch gegen sie richten wird", schließt Cheheltan aus dem Versuch des Regimes, die Kultur für sich zu vereinnahmen und kritische Stimmen auszuschalten.
Die iranische Geschichte der letzten hundert Jahre und insbesondere die Revolutionszeit und deren Auswirkungen hat Cheheltan in seinen Romanen, allen voran "Iranische Dämmerung", ausführlich behandelt. "Der Zirkel der Literaturliebhaber" hingegen ist vor allem eines: Eine Einladung, zu lesen und zu entdecken – und nicht zuletzt eine Tür, die den Zugang zu den großen zeitlosen Werken der persischen Dichtung öffnet.
Gerrit Wustmann
© Qantara.de 2020
Amir Hassan Cheheltan: "Der Zirkel der Literaturliebhaber", aus dem Persischen von Jutta Himmelreich, Verlag C.H. Beck 2020, 252 Seiten, ISBN: 978-3-406-75090-8