Die Vernebelte
Casablanca, so suggeriert der legendäre Film von Michael Curtiz, liege zwischen Meer und Wüste. Ein Klischee, denn die Küstenebene ist fruchtbar und die Stadt seit langem Getreideausfuhrhafen gewesen.
Der Realität näher kommt da schon der berühmte Autor Driss Chraibi bei der Beschreibung des Hauses seines Krimihelden Inspektor Ali: "Durch das weit zum Garten hin geöffnete Schlafzimmerfenster drangen duftende Schwaden von Jasmin und Glyzinie herein. Der Ozean, nah und fern zugleich, räusperte sich wie ein ratloser Greis angesichts der Unendlichkeit des Lebens."
In einem Punkt behält der zwischen nachgebauten Kulissen im amerikanischen Studio gedrehte Film jedoch recht: Nebel gehört zu dieser Stadt, wie seine kosmopolitischen Einwohner und das Meer.
Casablanca, die nach Kairo und Alexandria heute drittgrößte Stadt Nordafrikas mit ihrem Ballungsraum von fast sechs Millionen Einwohnern, ist rasch der größte Hafen des Landes geworden.
Das moderne Wirtschafts-, Verkehrs- und Industriezentrum des Königreichs erwirtschaftet heute fast die Hälfte des marokkanischen Bruttoinlandsprodukts.
Traditioneller Treffpunkt der Kulturen
In Marokkos Hafenstädten trafen seit jeher verschiedene Kulturen aufeinander. Noch heute gibt es in Casablanca, neben den etwa 3.000 offiziellen Moscheen und ungezählten improvisierten Betsälen, einige Kirchen - sechs katholische, eine evangelische und eine anglikanische - und drei aktive Synagogen.
Die jüdische Bevölkerung war hier traditionell stark vertreten, aktuell leben in der Metropole rund 3.000 der heute noch knapp 5.000 marokkanischen Juden.
Die europäische Durchdringung des städtischen Organismus begann im 19. Jahrhundert. Französische Kaufleute exportierten seit Mitte des 19. Jahrhunderts preiswerte Wolle und Getreide aus Casablanca nach Europa.
Damals lebten etwa 1.000 Franzosen in der Stadt. Zwei Jahre später hatte sich ihre Anzahl schon mehr als verfünffacht, und 1912, als Frankreich in Marokko Protektoratsmacht wurde, waren es bereits rund 20.000.
Europäisierung des Stadtbildes zum neuen Jahrhundert
Durch diesen Einfluss entstanden zwischen 1910 und 1914 beeindruckende Gebäude im Kolonialstil, und die Grundstückspreise schnellten in atemberaubende Höhe. In der Altstadt, der "Ancienne Médina", befanden sich 1912 ein englisches, ein spanisches, ein französisches, ein deutsches und ein belgisches Konsulat.
Spanier weihten 1891 die Buenaventura-Kirche in der Medina ein, das älteste christliche Gotteshaus der Stadt. Noch im selben Jahr eröffnete das Gotteshaus der anglikanischen Konkurrenz.
Am Südrand der Altstadtmauer erhebt sich seit 1992 wieder eine Rekonstruktion des 1940 zerstörten Uhrenturms. Ein Bauwerk als Zeugnis eines modernen Zeitbegriffs!
Seit 1930 steht ein ähnlicher Turm auch am von Antoine de Saint-Exupéry so geschätzten Place de France (heute Place Mohammed V), dem Verwaltungskern der Stadt, mit Hauptpost, Präfektur und Zentralbank.
Geplante Moderne unter französischem Protektorat
Casa, wie die Stadt unter Einheimischen genannt wird, beerbte im 20. Jahrhundert das traditionelle Handelszentrum Fes, die alte intellektuelle und religiöse Hauptstadt des Landes. "In Fes fragt dich jeder nach deiner Herkunft und deiner Familie, in Casablanca hingegen bist du einfach, wer du bist", heißt es.
Seit der Zeit des französischen Protektorats (1912-56) versuchten Städteplaner, der wachsenden Metropole das Antlitz einer modernen Stadt mit traditionellen Reminiszenzen zu verpassen: Der Plan des Architekten Léon-Henri Prost von 1914 schuf die sternförmig aufs Zentrum zulaufenden Boulevards und installierte die Industriezonen im Osten der Stadt.
Um die Viertel von Europäern und Marokkanern klar zu trennen und den Zuwanderern mehr Platz in traditionellen Strukturen zu bieten, entstand 1923 die so genannte "Neue Medina", das Habbous-Viertel. Eine neu gebaute Stadt nach traditionellem Muster, mit Toren, Moscheen, Gassen und Brunnen.
Michel Écochard, der zuvor an Planungen für Beirut und Damaskus beteiligt war, wurde Prosts Nachfolger als Stadtplaner in der Endphase des Protektorats. Er erarbeitete zwischen 1946 und 1952 einen Gesamtplan für die schnell wachsende Metropole "Grand Casablanca". Seine Erlebnisse und Überlegungen wurden 1955 in Paris unter dem Titel "Casablanca – Roman d’une Ville" veröffentlicht.
Widerstand gegen die Ideologie vom "nutzbaren Marokko"
Die Europäisierung wurde nicht immer widerstandslos aufgenommen: Techniker aus Frankreich kamen 1907 nach Casablanca, um zum Transport von Naturstein für den Hafenausbau Bahngleise zu verlegen. Doch Marokkaner verübten einen Sprengstoffanschlag auf die Gleisanlagen
Dennoch erweiterten die Franzosen zur besseren Nutzung ihres Protektoratsgebiets, das sie das "nutzbare Marokko" (Maroc utile) nannten, die Verkehrsverbindungen. Auch der Hafen der Stadt wuchs, und 1916 legte der Ingenieur Perret die Docks an.
Bidonvilles: die marokkanischen Slums
Als das Zementwerk der Firma Lafarge um 1920 in der Roches Noires genannten Gegend seine Produktion begann, entstand in direkter Nachbarschaft das Arbeiter- und Elendsviertel Carrières Centrales.
Jede Industrieansiedlung zog so seine "Bidonvilles" ("Kanisterstädte" oder Slums) nach sich. Mehrere der mit den Anschlägen vom Mai 2003 in Verbindung gebrachten Islamisten stammen aus dem nahe der Autobahn nach Rabat liegenden Elendsviertel Sidi Moumen.
Im damals größten Slum Marokkos, Beni Msik, wurde 1953 der heute berühmte Dichter Abdallah Zrika geboren, der fast 30 Jahre dort verbrachte. Dieses Elendsviertel hat die Stadtverwaltung inzwischen geräumt. Die Behörden boten den Bewohnern Neubauwohnungen für ein Zehntel des marktüblichen Preises zum Kauf an.
Der zweite Weltkrieg und die Amerikanisierung
Die zweite Welle westlichen Einflusses begann für Casablanca mit der Landung der US-Amerikaner am 8. November 1942. Da das marokkanische Protektoratsgebiet vom "unbesetzten" Frankreich unter dem Nazi-Partner Marschall Pétain von Vichy aus regiert wurde, kam es in Marokko zu einer Konfrontation: Amerikanische und französische Soldaten standen sich gegenüber.
Nach einer geheimen Absprache der Vereinigten Staaten mit Admiral François Darlan, der 1942 aus deutscher Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war, stimmte Pétain einem französisch-amerikanischen Waffenstillstand in Marokko zu. US-Amerikaner zogen am 10. und 11. November 1942 in die Stadt ein.
Zwei Tage später wurde Darlan von Eisenhower de facto als Oberhaupt des französischen Staates in Nordafrika anerkannt. General De Gaulle, Führer der Résistance, war über die alliierte Invasion nicht informiert worden und protestierte bei Churchill vehement gegen seine Ausschaltung.
Im Januar 1943 fand im Hotel Anfa die Konferenz von Casablanca statt, bei der Churchill und Roosevelt als Kriegsziel Deutschlands bedingungslose Kapitulation festschrieben.
Für das Jahr 1943 fand der Volksmund die Kurzformel „Jahr der Amerikaner”. Es endete im Dezember mit einer symbolhaften Handlung zum islamischen Opferfest: US-General Patton ließ den französischen General Noguès zu den Feierlichkeiten in seinem beeindruckend modernen amerikanischen Wagen mitfahren: Von nun an war deutlich, dass de facto die USA bestimmten, wohin Marokko steuern würde.
Kino für die hungernde Bevölkerung
Zahlreiche Marokkaner frequentierten die nach dem Krieg entstandenen Warenhäuser, Kinos, Cafés und Bars und schätzten die Internationalität der Stadt. Der Zeitzeuge Jean Orieux berichtet von einem Kinobesitzer, der um 1940 für 2,5 Millionen Francs in Casablanca ein Kino kaufte.
Wie sollte er angesichts einer hungernden Bevölkerung die Kosten je einspielen? Die kinobegeisterte Bevölkerung aber brachte ihm regelmäßig 250.000 Francs monatlich ein – zur Freude des Unternehmers.
In den Kinosälen traten auch Stars wie Josephine Baker auf. Der Romanautor Driss Chraibi, der seine Jugend im Viertel Derb Soltane verbrachte, bekannte, dass er mit 14 Jahren, 1940, unsterblich in Ginger Rogers verknallt war. Bis heute gibt es in Casablanca 40 Kinos und dreizehn Säle für Theatertruppen, etwa das Kindertheater des großen Dramatikers Taieb Saddiki.
Koloniale Mythen und architektonische Vergangenheit
Heute wächst das Interesse an der architektonischen Vergangenheit der Stadt wieder. Besonders die Architektur des Art Déco, der klassischen Moderne und des International Style, aber auch preiswerte Siedlungen für Arbeiter und beeindruckende Gartenanlagen werden in dem empfehlenswerten Bildband "Casablanca: Colonial Myths and Architectual Ventures" von Jean-Louis Cohen und Monique Eleb thematisiert.
Die Autoren haben zu diesem Werk eine Fülle von Dokumenten, (Karten, Fotos, Pläne, Architekturzeichnungen und nicht zuletzt schwer zugängliche oder vergriffene Literatur) gesichtet und wiedergegeben. Möglich wird dadurch eine neue Diskussion über eine der interessantesten Stadtentwicklungen des 20. Jahrhunderts.
Die von der Architektin Jaqueline Alluchon gegründete Organisation "Casa-Mémoire" veranstaltet seit fast zehn Jahren sonntags Stadtrundgänge durch das Zentrum von Casablanca.
Die Erinnerung dient auch dazu, aktuelle Probleme anzugehen: Nach 20 Jahren fruchtloser Diskussion über eine Métro soll nun oberirdisch eine Stadtbahn gebaut werden. Fast vergessen ist, dass es bis in die 1960er Jahre bereits elektrische Trolleybusse in der Stadt gab.
Ein marokkanischer Eiffelturm
Im Juli 1986 war Baubeginn für die neun Hektar umspannende "Große Moschee Hassan II" unter der Ägide des französischen Architekten Michel Pinseau. Dieses Großbauwerk war der letzte große, noch heute nachwirkende Eingriff in den urbanen Kontext.
Dort, wo ein überdimensioniertes, 300 Meter langes Meerwasserschwimmbad stand, wurde 1992 ein wahrhaft symbolisches Bauwerk eröffnet. Vergleiche mit dem Eiffelturm und der auf der anderen Seite des Atlantiks gelegenen Freiheitsstatue werden immer wieder für die zweitgrößte Moschee der Welt mit ihrem 200 Meter hohen Minarett bemüht.
Eine große Zugangsstraße zur Moschee befindet sich nach Abriss zahlreicher Wohnhäuser nun im Bau. Wieder einmal wird die Vernebelte ein neues Gesicht bekommen.
Christian Hauck
© Qantara.de 2005
"Casablanca: Colonial Myths and Architectural Ventures" , von Jean- Luis Cohen und Monique Eleb, erschienen bei Monacelli Press, 2003.
www
Mehr zum Buch und zu den Autoren finden Sie bei Monacelli Press (engl.)