Kultur als Gegenmittel zum islamistischen Terror
Sie sind ein erfolgreicher Schriftsteller, Künstler und Aktivist. Lässt sich das problemlos miteinander vereinbaren?
Mahi Binebine: Ich hasse es, Aktivist zu sein (lacht). Ich komme dann einfach nicht zum Arbeiten. Alle zwei Jahre schreibe ich einen Roman, dazu organisiere ich jedes Jahr zehn bis zwanzig Ausstellungen. In meiner Kunst und Literatur setze ich mich mit Fragen der Migration und den Ursachen des Terrorismus auseinander. Durch meine praktische Arbeit kann ich wirklich Menschen helfen. Es ist ein großer Unterschied, ob man nur schreibt oder auch direkt hilft.
Als Künstler sind Sie sehr nah am Menschen dran. In Ihren Bildern verschmelzen oft Menschenkörper miteinander oder sie erzählen die Geschichte einer Begegnung. In Ihren Büchern behandeln Sie gesellschaftspolitisch relevante Themen, lange bevor sie die Öffentlichkeit erreichen. In "Kannibalen", das 2003 erschien, beschreiben Sie das Schicksal von Migranten, die die Überfahrt mit dem Boot von Marokko nach Spanien auf sich nehmen. In "Die Engel von Sidi Moumen", das 2008 erschien, setzen Sie sich mit dem Prozess der Radikalisierung benachteiligter Jugendlicher auseinander.
Binebine: Ja. Ich habe trotzdem das Gefühl, der Entwicklung hinterher zu sein. Nach den Attentaten von Casablanca befand sich ganz Marokko in Schockstarre. Niemand hatte bis dato mit solchen terroristischen Anschlägen gerechnet. Wir dachten, wir leben in einer gesunden Gesellschaft. Ich begann zu recherchieren und stellte fest, dass ich das Elendsviertel Sidi Moumen noch nie zuvor gesehen hatte. Es grenzt direkt an eine Autobahn, abgeschirmt von einer großen Mauer. Man sah nichts von dem Elend. Nichts. Eine versteckte Stadt mit 300.000 Einwohnern. In der Mitte des Slums liegt ein riesiger Müllhaufen. Ich habe mein Land nicht wiedererkannt. Das Bild, das ich nie vergessen werde waren Kinder, die auf der Müllhalde Fußball spielten. Als ich sie sah, dachte ich, dass sie die Helden meines nächsten Romans werden.
Ihr Buch wurde von dem marokkanischen Regisseur Nabil Ayouch verfilmt…
Binebine: Für diesen Film arbeiteten wir mit jungen Laienschauspielern aus Sidi Moumen zusammen. In der Zeit der Dreharbeiten brachten wir sie in einem Appartement in Casablanca unter. Sie bekamen gutes Essen, Kleider und konnten duschen. Als das Ende der Dreharbeiten näher rückte, fragte mich Nabil: "Was machen wir jetzt mit den Kindern?" Ich sagte, dass ich keine Ahnung habe. Wir diskutierten viel darüber und beschlossen schließlich, etwas für die Kinder und Jugendlichen zu tun.
Und was haben Sie unternommen?
Binebine: Ich setzte mich daraufhin mit Malerkollegen aus der ganzen Welt in Verbindung und bat sie, eines ihrer Werke für eine Versteigerung zur Verfügung zustellen. Es handelt sich zum Teil um recht bekannte Künstler. Wir erhielten fast 100 Bilder und nahmen so eine Menge Geld ein. Anschließend trafen wir uns mit dem Bürgermeister von Sidi Moumen. Wir baten ihn um ein Grundstück. Nach einem einstündigen Gespräch überließ er uns viel mehr als das: Er stellte uns das bereits bestehende Kulturzentrum mit über 2.000 Quadratmetern Fläche zur Verfügung, das jedoch unterhalten werden musste. Doch wir konnten mit unserer Arbeit beginnen. Mittlerweile haben wir auch die langfristige Finanzierung gesichert.
Was bieten Sie den Jugendlichen in diesem Kulturzentrum an?
Binebine: Derzeit finden dort wöchentlich Theaterkurse für unterschiedliche Altersstufen statt, zudem gibt es Ballett, Hip-Hop, Klavierunterricht, Fotokurse oder Business-Englisch für Erwachsene. In unserem Zentrum in Sidi Moumen sind mittlerweile 400 Kinder und Jugendliche registriert. Es kommen allerdings doppelt so viele, die unsere Angebote wahrnehmen wollen.
Vergleicht man die Lebenssituation von jugendlichen Migranten in den heruntergekommenen Banlieues von Paris lassen sich Gemeinsamkeiten mit den Bidonvilles von Casablanca entdecken?
Binebine: Beide Regierungen haben ähnliche Fehler gemacht. Länder wie Frankreich oder Italien haben in den 1950er und 1960er Jahren den sozialen Wohnungsbau am Stadtrand gefördert. Dabei haben sie nicht daran gedacht, dass sie die Menschen dort praktisch ausschließen. Im Laufe der Zeit haben sich manche dieser Vorortsiedlungen zu rechtsfreien Räumen entwickelt, in denen Gewalt ein probates Mittel ist, um sich durchzusetzen. Heute bekommen wir die Quittung für das, was wir in den letzten Jahren versäumt haben.
Können Sie beschreiben, wie der Prozess der Radikalisierung bei marokkanischen Jugendlichen in den Bidonvilles verläuft?
Binebine: Nach den Attentaten von 2003 habe ich mit einem Journalisten, der aus Sidi Moumen stammt, viel Zeit dort verbracht. Ich habe mit den Familien und Freunden der Attentäter gesprochen. Sie erklärten mir, dass die Islamisten langsam an die Kinder herangehen. Sie ziehen sie sozusagen direkt aus dem Müll heraus und sagen ihnen, dass sie sauber sein sollen. Schließlich geben sie ihnen eine Unterkunft, wo sie sich waschen können und wo sie etwas zu essen bekommen. Dann nehmen sie die Kinder mit in die Moschee, wo sie fünfmal am Tag beten und den Koran studieren. So sind sie erst einmal von ihren alten Freunden und ihrer Familie getrennt und werden Teil einer anderen Gemeinschaft. Dann verschaffen sie ihnen eine Arbeitsstelle. Und als letzter Schritt erfolgt schließlich die Radikalisierung: Die Islamisten zeigen ihnen Propagandavideos, die sie mit Verschwörungstheorien verbinden: von vermeintlichen Juden, angeblichen amerikanischen Imperialisten und den armen Arabern als die Opfer der Aggressionen. Sie zeigen ihnen Videos von Anschlägen, glorifizieren die Attentäter und erklären ihnen gleichzeitig: "Du bist auserwählt!" Ab dann braucht es nur noch etwa zwei Jahre, um eine menschliche Bombe aus ihnen zu machen. Wenn ein Kind mit 14 Jahren angeworben wird, kann es bereits mit 16 Jahren bereit sein, sich für die Terroristen in die Luft zu sprengen.
Was wollen Sie mit Ihrer Sozialarbeit in dem Bidonville erreichen?
Binebine: Wir wollen den Kindern und Jugendlichen letztlich einen Raum geben, in dem sie sich frei entwickeln können. Wir wollen den islamistischen Terror, der seinen Ursprung in den Elendsquartieren hat, mit Kultur bekämpfen. Die religiöse Mafia benutzt die Religion, um die Menschen von ihrer extremistischen Sache zu überzeugen. Wir zeigen anhand vieler kulturellen Aktivitäten auf, dass sie falsch liegen. Aber auch die Lebensumstände müssen sich ändern. Es geht nicht, dass jemand aus der Bourgeoisie einen Fahrer oder eine Hausangestellte mit nur 150 Euro im Monat entlohnt.
Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?
Binebine: Wir werden noch im Laufe dieses Jahres weitere Zentren eröffnen: in Tanger, Fez und Ouarzazate. Die Bidonvilles sind der Ort, an dem die Islamisten aktiv sind. Wir halten dagegen und stellen gerade neue Mitarbeiter in Sidi Moumen ein.
Das Interview führte Michaela Maria Müller.
© Qantara.de 2016
Der marokkanische Autor Mahi Binebine ist ein Multitalent. Nach Abschluss seines Studiums der Mathematik arbeitete er in Frankreich als Lehrer. Während dieser Zeit begann er zu malen. Seine Bilder sind unter anderem Teil der Guggenheim-Sammlung in New York. Zugleich schrieb er eine Reihe von Romanen, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Sein letzter Roman "Die Engel von Sidi Moumen" ist auf Deutsch 2011 im Lenos-Verlag erschinenen.