Wettlauf gegen die Zeit
Wer den Konflikt in Syrien im Internet verfolgt, ist hin- und hergerissen zwischen hoffnungsvoller Begeisterung und blankem Entsetzen. Verschiedene Entwicklungen zerren das Land in die eine oder andere Richtung. Wer sich dabei durchsetzt, wird über die nahe Zukunft Syriens bestimmen.
Auf der einen Seite stehen Aktivisten, Revolutionäre, Deserteure und freiwillige Kämpfer, die die Einheit des syrischen Volkes beschwören, sich für Versöhnung stark machen und die eigene Moral hochhalten. Sie arbeiten mit allen Gesellschaftsgruppen zusammen, um Vielfalt zu bewahren, Racheaktionen zu verhindern und die Grundlagen für Demokratie und Pluralismus zu legen.
Sie bauen Schulen und Krankenhäuser im von der Opposition kontrollierten Idlib auf, verschönern öffentliche Plätze im befreiten Yabroud, stellen Schilder mit der Botschaft "egal ob du Loyalist oder Oppositioneller bist, respektiere dich, indem du mich respektierst" auf und singen für die Freiheit in al-Bab.
Nur ein Teil der revolutionären Realität in Syrien
Lokale Rebellenführer verurteilen die Menschenrechtsverletzungen anderer Kampfverbände und lassen Anwälte ihre Gefängnisse inspizieren. Nach einem Überfall auf die Kirche des heiligen Sergius und Bacchus in Qara erklären sich Vertreter aller Konfessionen solidarisch mit den Christen der Kleinstadt. Klingt zu schön um wahr zu sein? Ja, denn diese Geschichten schaffen es nicht in die Nachrichten. Und sie sind auch nur ein Teil der revolutionären Realität in Syrien.
Die andere Seite ist hässlich und besser bekannt. Eine Einheit der Freien Syrischen Armee (FSA) erschießt in Aleppo Vertreter der al-Berri-Mafia als Vergeltung für 15 getötete Kämpfer. Bei Sarakib richten Rebellen gefangengenommene Soldaten und Milizionäre des Regimes hin, in Tadamun, einem Vorort von Damaskus, töten Kämpfer einen Journalisten des syrischen Staatsfernsehens und den Damaszener Stadtteil Mezze 86, in dem viele Pro-Regime-Anhänger wohnen, beschießen sie mit Raketen.
Natürlich sind das Reaktionen auf die Gräueltaten, die das Regime seit 20 Monaten begeht, und noch immer stehen die Verbrechen der Rebellen in keinem Verhältnis zur systematischen staatlichen Gewalt gegen Zivilisten.
Aber bewaffneter Widerstand muss sich auf militärische Ziele beschränken und der Kampf für Freiheit moralische Mindeststandards erfüllen. Die Freie Syrische Armee muss besser handeln als Assads Schergen, sonst ist sie keine Alternative, sondern nur eine unheilvolle Kopie des Grauens.
Angriffe auf Militärbasen, das Abschießen von Flugzeugen und die Gefangennahme von Soldaten und Shabiha-Milizionären sind Teil des Kampfes gegen die Diktatur. Folter und gezielte Hinrichtungen von Schutzbefohlenen dagegen nicht – ebenso wenig wie der Beschuss von Wohngebieten. Mit solchen Methoden schaden die Rebellen der Revolution.
Radikale Gruppen auf dem Vormarsch
Viele FSA-Brigaden sind sich dessen bewusst und halten dagegen. Sie stehen in engem Kontakt mit der Bevölkerung vor Ort, weil ihre Mitglieder – Lehrer, Landarbeiter, Handwerker, Arbeitslose oder Studenten – meist aus der Gegend stammen, in der sie kämpfen. Sie arbeiten mit den Aktivisten des zivilen Widerstands zusammen und sprechen sich mit den regionalen Revolutionskomitees ab, kurzum: Sie kämpfen für eine bessere Zukunft Syriens und verdienen deshalb Unterstützung.
Genau die bekommen sie aber viel zu wenig, so dass radikale Gruppen auf dem Vormarsch sind: international operierende Jihadisten und islamisch auftretende Extremisten, die kampferprobt, gut vernetzt und militärisch erfolgreicher sind als andere und deshalb – und das ist der größte Grund zur Sorge – immer mehr Syrer in ihren Bann ziehen.
Sichtbar wird diese Entwicklung in den Video-Botschaften der Rebellen. Dokumentationen von militärischen Erfolgen oder vom Zusammenschluss mehrerer Einheiten zeigen eine zunehmend islamische Identifizierung. Statt der schwarz-weiß-grünen Unabhängigkeits-Fahne, dem Symbol der Revolution, werden islamische Flaggen geschwenkt, in Sprechchören wird dem Propheten Mohammed die Treue geschworen.
Bewusst halten al-Qaida-nahe Gruppen wie die al-Nusra-Front in Syrien Distanz zur Bevölkerung, ihre radikal-islamischen Positionen machen den meisten Syrern Angst. Aber auf ihre militärischen Fähigkeiten, ihre Ausrüstung und Erfahrung kann die Freie Syrische Armee im Kampf gegen das Assad-Regime nicht verzichten. Sie wandelt folglich auf einem schmalen Grat zwischen dem Versuch, radikale und vom Ausland gesteuerte Gruppen in die syrische Revolution einzubeziehen, ohne sich von diesen vereinnahmen zu lassen.
Dabei läuft die Zeit zugunsten der Extremisten. Die vielerorts unerträgliche Not und Verzweiflung treiben ihnen vor allem in ländlichen Gebieten immer mehr Anhänger in die Arme. Und solange keine Hilfe von woanders in Sicht ist, greifen junge Syrer eben im Namen Gottes zur Waffe – Gott ist ohnehin ihr einziger Beistand in diesen Tagen.
Drohender Vertrauensverlust in die Nationale Koalition
Damit aus dem Aufstand des syrischen Volkes gegen die Diktatur kein religiöses Unterfangen wird, muss die Nationale Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte das Heft in die Hand nehmen, und zwar schnell. Wenn sie nicht bald etwas bewegt, wird sie den Vertrauensvorschuss der Syrer verlieren und ähnlich wie der Syrische Nationalrat in der Bedeutungslosigkeit versinken.
Überall dort, wo das Regime die Kontrolle verliert, muss die Nationale Koalition das Vakuum füllen. Das kann sie jedoch nur, wenn sie den Aktivisten und Kämpfern vor Ort etwas anzubieten hat, schließlich setzen diese seit Monaten ihr Leben aufs Spiel und müssen deshalb in einen Übergangsprozess aktiv miteingebunden werden.
Was aber hat die Nationale Koalition bisher zu bieten außer ein paar namhaften Oppositionellen, weisen Worten und diplomatischem Schulterklopfen der Europäer und Amerikaner? Was sie wirklich braucht, sind Geld und Vertrauen. Sie muss die Not der Menschen in Syrien lindern, in befreiten Gebieten eine überzeugende Post-Assad-Ära begründen und die unzähligen teils kooperierenden, teils zerstrittenen Brigaden zu einer schlagkräftigen Militärmacht vereinen.
Dafür muss die Nationale Koalition zur effektiven Steuerungsbehörde werden, indem sie ausländische Gelder zentral sammelt und nach Kriterien verteilt, die allein syrischen Interessen dienen und ohne Einmischung von außen festgelegt werden.
Über den Bedarf und Einsatz von Waffen sollten die Militärräte der verschiedenen Provinzen entscheiden, die mit den jeweiligen Revolutionsräten zusammenarbeiten. Geld für humanitäre Hilfe bekommen die lokalen Koordinierungskomitees und alle anderen Organisationen, die sich vor Ort um die Versorgung von Verletzten, Kranken, Witwen, Waisen und Flüchtlingen kümmern.
Zum Aufbau alternativer staatlicher Strukturen arbeitet die Nationale Koalition mit denjenigen Gremien und Personen zusammen, die bereits zivile Selbstverwaltung praktizieren und sich der Vielfalt der syrischen Gesellschaft verpflichtet fühlen. Mäßigung, Toleranz und die Einbeziehung aller Bewohner einer Region werden belohnt, Racheaktionen geahndet.
Politischer Druck notwendig
Eine Finanzierung der Nationalen Koalition im Vertrauen darauf, dass diese das "Richtige" mit dem Geld macht, wird den Sponsoren schwerfallen, ist aber unerlässlich. Die USA und Europa argumentieren, Waffen könnten in die Hände von Extremisten fallen, die eine internationale jihadistische Agenda verfolgen.
Das Argument ist jedoch hinfällig, da genau diese Gruppen inzwischen schwere Waffen wie Panzer und Flugabwehrraketen aus den Beständen der gut ausgerüsteten syrischen Armee erobern. Eine koordinierte Unterstützung von außen ist folglich umso dringender, da mit Hilfe der Nationalen Koalition diejenigen Kräfte gestärkt werden, die für Freiheit und Demokratie in Syrien kämpfen und dabei kein Bündnis mit Terrorgruppen eingehen wollen. Ausländische Finanzhilfe wird also mäßigend auf den Konflikt wirken, nicht verschärfend.
Parallel dazu muss sich die internationale Gemeinschaft politisch und diplomatisch zusammenraufen und zu einem koordinierten Vorgehen in Syrien finden. Wichtigste Voraussetzung dafür ist, Russland davon zu überzeugen, dass es eine Alternative zu Assad gibt, die kein Kalifat bedeutet. Nur wenn Moskau die Nationale Koalition als glaubwürdigen Vertreter des syrischen Volkes anerkennt, kann es sich gesichtswahrend vom Regime in Damaskus abwenden und damit den Weg für eine politische Lösung ebnen.
Ohne Unterstützung aus Russland und konfrontiert mit einer besser ausgestatteten und koordinierten Freien Syrischen Armee wird sich das Regime aus immer mehr Landesteilen zurückziehen müssen, um Damaskus und das Küstengebiet zu halten. Es bedarf also gleichzeitig politischen und militärischen Drucks, um das Regime zum Einlenken zu bewegen. Erst wenn Baschar al-Assad keinen Ausweg mehr sieht, wird er die eigene Machtübergabe verhandeln, alles andere ist Wunschdenken.
Für diesen Moment muss im "befreiten" Norden bereits eine neue staatliche Ordnung entstanden sein, die beweist, dass auf Assad nicht das Chaos, sondern etwas Besseres folgt.
Sich aus dem Konflikt herauszuhalten, ist in Syrien keine Option. Das sollte jedem, der sich die Entwicklung der vergangenen 20 Monate ansieht, klar sein. Statt weiter die Radikalisierung und Militarisierung des einst friedlichen Volksaufstandes zu beklagen, gilt es jetzt endlich zu handeln. Mit der Nationalen Koalition ist eine übergangstaugliche Alternative zum Assad-Regime entstanden. Sie verdient Unterstützung – damit am Ende die Syrer über ihr Schicksal entscheiden, und nicht al-Qaida.
Kristin Helberg
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de