Können Tunesiens Amazigh ihr kulturelles Erbe retten?
Der Tunesier Hischam al-Gharayiri definiert sich als Angehöriger der "Amazigh" – den meistens als Berber bezeichneten ursprünglichen Bewohnern Nordafrikas. Seine Muttersprache konnte er allerdings nicht einfach so erlernen, weder zuhause noch in der Schule.
Als Hischam 1980 im Süden Tunesiens zur Welt kam, war es den Amazigh verboten, ihre Muttersprache zu benutzen. Irgendwann sprach seine Familie dann sogar in den eigenen vier Wänden nur noch Arabisch. "Tunesien wurde eine rein tunesische Identität aufgezwungen", sagt Hischam. Damit spielt er auf den ehemaligen Staatspräsidenten Habib Bourguiba an, der dem Land eine "homogene Identität" verordnete, die die real existierende kulturelle Pluralität seiner Einwohner ignorierte.
Die kulturelle Identität der Amazigh wurde so zu einem Tabuthema in der Familie und wie ein Schandfleck verheimlicht. Weder sprachen die Eltern mit ihren Kindern auf Tamazight noch brachten sie ihnen die Sprache bei.
"Wie viele andere Menschen auch, wollten sie keine Probleme bekommen und hatten Angst um ihre Kinder", so Hischam. Irgendwann führte ihn jedoch die Neugier zu den Wurzeln seiner Familie: Er freundete sich mit jungen Leuten aus den Nachbardörfern an, die nur Tamazight beherrschten und lernte so die ersten Wörter.
Später begleitete er eine Gruppe ausländischer Studentinnen, die die Kultur der Amazigh erforschten. Gemeinsam besuchten sie die Menschen zuhause und Hischam bekam einen Einblick in die Welt seiner ursprünglichen Kultur, die ihm bis dahin verschlossen geblieben war.
"Eine homogene Identität, die keine kulturelle Pluralität anerkennt"
Als Tourguide versuchte Hischam am Anfang seines Berufslebens die Fragen der Touristen ehrlich zu beantworten und erklärte offen, dass der Staat den Amazigh verboten hatte, in ihrer Sprache zu sprechen und ihre Feste zu feiern. Diese Offenheit brachte ihn jedoch in Schwierigkeiten und schließlich verlor er seinen Job in der Touristikbranche.
Aus der Sicht Hischams wollte der Staat aus den Amazigh eine "Ware" beziehungsweise ein "tunesisches Produkt" machen. Dabei ignorierte er geflissentlich, dass "es sich bei diesem 'Produkt' in erster Linie um Menschen handelt. Menschen, die schon sehr lange in Nordafrika ansässig sind und die gleichen Rechte wie alle anderen in diesem Staat haben sollten."
In einem der Cafés von Matmata, einem Ort im Süden Tunesiens, der seine Gäste nach wie vor in kleinen Unterkünften beherbergt, die im Stil der ursprünglichen lokalen Bauweise gehalten sind, legt Hischam in aller Offenheit seine Geschichte dar. Dass er dies heute ohne Furcht tun kann, verdankt er den Aktivistinnen und Aktivisten aus den Kreisen der Amazigh, die sich nach der Revolution von 2010 Gehör verschaffen konnten und lange in Vergessenheit geratene Rechte einforderten.
Mittlerweile bieten verschiedene Organisationen Kurse an, in denen Interessierte das Alphabet der Amazigh, das "Tifinagh", lernen können. Konsequenzen müssen sie dabei nicht mehr fürchten.
Die Wiederentdeckung des Alphabets nach der Revolution
Der Verein "Azrou" setzt sich für die Kultur der Amazigh ein. Seit Dezember 2012 bietet er in seinen Räumen in Zraoua Kurse für die Kinder aus der Region an, in denen ihnen beigebracht wird, Tamazight zu schreiben.
Die Menschen in der Gegend sprächen Tamazight zwar von klein an noch bevor sie in der Schule Arabisch lernen würden, erklärt Arafat al-Mahrouq, der Vorsitzende von "Azrou". Schriftlich beherrsche es allerdings eigentlich niemand - seiner Ansicht nach die logische Konsequenz der Politik Habib Bourguibas, des ersten Präsidenten Tunesiens.
Ursprünglich habe seine Familie in den Bergen gelebt, erzählt Al-Mahrouq, aber Bourguiba trieb "den Bau neuer Siedlungen voran. Sie dienten der Integration in ein vereintes Tunesien, dessen einheitliche Identität als Bindeglied zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen fungieren sollte. Vordergründig ging es darum, sie an das Netz der staatlichen Infrastruktur anzuschließen und Strom, Wasser, Beleuchtung, medizinische Einrichtungen sowie Bildungsinstitutionen bereitzustellen. Tatsächlich sollten damit aber auch tribale Strukturen beseitigt und der Einfluss jeglicher Bewegungen der Panarabisten und Amazigh in diesen Regionen zurückgedrängt werden", so Al-Mahrouq.
Eine solche Politik "hat fundamentale Auswirkungen auf die eigene Existenz", denn es könne passieren, dass "man seine eigene Sprache verlernt, wenn die Sprache der Bildungsinstitutionen und der öffentlichen Einrichtungen Arabisch ist und um einen herum nur arabischsprachige Menschen leben, die einen nicht verstehen, wenn man auf Tamazight mit ihnen redest. Mit der Zeit geht die Sprache dann verloren; wie zum Beispiel in Tamazert, wo nicht einmal mehr 20 Prozent der Bevölkerung Tamazight beherrschen."
Immerhin, trotz jahrzehntelanger Marginalisierung hätten es "die Amazigh nicht nur geschafft, alle widrigen Umstände zu überwinden und ihre Identität zu bewahren, sondern sich in den acht Jahren seit der Revolution auch weiterentwickelt", findet er.
Nachdem die tunesische Bevölkerung das Regime Ben Alis zu Fall gebracht hatte, gelang es den Aktivistinnen und Aktivisten der Amazigh-Bewegung - darunter auch den Mitgliedern von "Azrou"-, sich mit Gleichgesinnten in den anderen Ländern Nordafrikas zu vernetzen. Der Kampf um die Rechte der Amazigh sei in Ländern wie Marokko, Algerien und Libyen bereits weiter vorangeschritten, erklärt Al-Mahrouq.
Besonders profitiert haben die Aktivistinnen und Aktivisten von der Sammlung des "Königlichen Institut für die Amazigh-Kultur" in Marokko, das 2002 mit dem Ziel gegründet worden war, diese zu bewahren. Unter den Symbolen des Alphabets, die letztlich im Sitz des Vereins im Süden Tunesiens ein neues Zuhause gefunden haben, "sind sich solche, die sich auf Stoffen befanden und solche, die Teil einer Tätowierung waren. Wir haben herausgefunden, dass es sich dabei um Buchstaben des Tifinagh handelt!"
Tamazight - mehr als eine "Touristenattraktion"
Ali Ziyada, eines der engagierten Mitglieder von „Azrou“, hat sich der Aufgabe angenommen, "jedem Menschen, der sich als Amazigh sieht", Tamazight beizubringen. Seiner Ansicht nach bietet sich derzeit die Chance, aus der Sprache mehr zu machen, als die "touristische Attraktion", die sie jahrzehntelang darstellte.
"Im Alltag war es den Menschen verboten, Tamazight zu sprechen, aber im Tourismusmarketing, auf Schildern und Plakaten, in Hotels und auf Ausstellungen wurde damit geworben, dass dies oder jenes ein Stück Amazigh-Kultur sei."
Je mehr sich diese Art der Werbung durchsetzte und die Bewohner der Region vom Tourismus als Einkommensquelle profitierten, desto stärker wurden ihre Kultur, ihre Bräuche, Sitten und Traditionen auch für die Menschen selbst zu einer "Ware". Darin sind sich die Mitglieder von "Azrou" einig und setzen sich daher mit den begrenzten, ihnen zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln dafür ein, diese Mentalität zu verändern.
Dank der Kurse des Vereins haben mittlerweile bereits einige Dutzend Teilnehmer gelernt, Tamazight zu schreiben. Darüber hinaus organisiert "Azrou" Vorträge an den Hochschulen im Gouvernement Gabes.
Abgesehen von den limitierten finanziellen Ressourcen unterliegt die Arbeit des Vereins keinerlei Einschränkungen: "Die jüngere Generation nimmt unsere Arbeit gut an. Und bis auf Menschen, die den Muslimbrüdern nahe stehen oder anderen Ideologien anhängen, die von der Überlegenheit der Araber überzeugt sind, hat auch niemand etwas gegen unseren Sprachunterricht", schildert der Vorsitzende Al-Mahrouq.
Von den finanziellen Beschränkungen will sich Ziyada, dessen Finger mit Symbolen aus der Kultur der Amazigh verzierte Ringe schmücken, aber nicht aufhalten lassen. Wenn es sein müsse, dann bringe er eben allen Interessierten die Sprache persönlich bei.
Haben die Aktivisten ihre Ziele erreicht?
In der Hauptstadt Tunis, in der er bis zu seinem Ruhestand in einer Bäckerei arbeitete, hat er bereits eine Gruppe in Tamazight unterrichtet. Aber auch im persönlichen Gespräch oder beim Nachrichtenaustausch auf Facebook versucht er immer wieder, den ein oder anderen Ausdruck für sein Gegenüber zu übersetzen.
Aus den Erklärungen der "UN-Arbeitsgruppe über Indigene Bevölkerungen" geht hervor, dass Tunesien 2007 zugunsten der "UN-Deklaration über die Rechte der indigenen Völker" stimmte. Bei der überwältigenden Mehrheit der tunesischen Bürgerinnen und Bürger aber auch der Juristinnen und Juristen ist dieser Schritt allerdings nicht angekommen. Auch in den Gerichten des Landes wird sie bisher nicht umgesetzt.
Nach dem Ausbruch der Revolution meldeten sich viele Stimmen in der tunesischen Öffentlichkeit zu Wort, die zuvor nur im Geheimen wirkten. In der Folge entstanden dutzende Organisationen, die sich dem Erhalt von Kultur und Sprache der Amazigh widmen und sie fördern wollen. Das wichtigste Dokument des Landes blieb von diesen Entwicklungen jedoch unberührt: In der 2014 vom Parlament verabschiedeten tunesischen Verfassung wird die Frage der Amazigh nicht thematisiert.
Tatsächlich spricht die Präambel der Verfassung von der "kulturellen und zivilisatorischen Zugehörigkeit Tunesiens zur arabisch-islamischen Umma" und nennt die Einheit "der Maghreb-Staaten einen ersten Schritt auf dem Weg zur Einheit der arabischen Welt."
Im Gegensatz dazu heißt es in der Präambel der marokkanischen Verfassung: "Das Königreich Marokko ist ein souveräner islamischer Staat, der seiner nationalen Einheit und geographischen Integrität verpflichtet ist. Er ist bestrebt, die unteilbare nationale Identität in ihrer Vielfalt und Pluralität, geformt durch die Verschmelzung ihrer arabisch-islamischen, amazighischen und saharisch-hassanischen Bestandteile und bereichert durch ihre afrikanischen, andalusischen, hebräischen und mediterranen Einflüsse, zu bewahren." Zudem legt Artikel Fünf fest, dass "als gemeinsames Erbe ausnahmslos aller Marokkaner auch Tamazight den Status einer Amtssprache einnimmt."
Der Versuch, von der Pressesprecherin des tunesischen Ministeriums für Kultur eine Stellungnahme für diesen Artikel zu erhalten, blieb leider erfolglos.
Unter Bourguiba und Ben Ali wurde den Amazigh "das Schönste" ihrer Kultur geraubt, meint Hischam, der das Land verlassen hat, nachdem er seine Arbeit als Touristenführer verlor. Bleibt die Frage: Können sie in den kommenden Jahren zurückerobern das, was ihnen einst genommen wurde?
Lina Shanak
© Qantara.de 2019
Übersetzung aus dem Arabischen von Thomas Heyne