Die arabische Revolution und ihre Folgen
Als unabhängige Forschungseinrichtung mit Geldern des Bundeskanzleramts finanziert, hat die SWP auch den Auftrag, die Politik zu beraten. Nach dem Beginn des Arabischen Frühlings im letzten Jahr gerieten Wissenschaftler, die über den Nahen Osten arbeiten, in die Kritik. Man warf ihnen vor, den Umbruch nicht vorhergesehen und stattdessen die Stabilität autoritärer Regime beschworen zu haben. Warum, so fragten Medien und Öffentlichkeit damals, hat denn niemand den Ausbruch einer Protestbewegung von Tunis bis Sanaa vorhergesagt?
Perthes ist nicht nur einer der besten deutschen Nahost-Kenner und ein ausgewiesener Syrien-Experte, sondern auch ein in den Medien viel gefragter Kommentator aktueller Ereignisse. Er analysiert und strukturiert, teilt das revolutionäre Geschehen in typische Phasen ein und beschreibt Gemeinsamkeiten wie Unterschiede in der Region.
Er versucht sich gar nicht erst in der Attitude des "Ich-war-dabei", sondern liefert Hintergründe und Analysen. Dabei gibt der Politologe einen umfassenden Überblick über die gesamte arabische Welt und bezieht auch Staaten an der Peripherie mit ein, wie den Sudan, und Länder, die vordergründig immun gegen den Wandel erscheinen, wie die Golfstaaten.
Einen breiten Raum nehmen in dem Buch auch seine Empfehlungen an die deutsche und europäische Politik ein, was bei der Stellung des Autors als Leiter eines wichtigen deutschen Think Tank nicht verwundert.
"Die Mauer der Angst ist gefallen"
Perthes deutet den arabischen Aufstand vor allem als das Auflehnen einer jungen Generation gegen die Autorität der Älteren. Die ältere Generation hat aus Angst vieles hingenommen, wozu die Jüngeren nicht mehr bereit sind. Bei den Jungen ist die "Mauer der Angst" gefallen und dieser Wandel in den Köpfen läßt sich nicht mehr rückgängig machen. Selbst dann nicht, wenn der politische Prozess bis zur Herstellung demokratischer Verhältnisse langwierig und zäh wird und es zahlreiche Rückschläge zu überwinden gilt.
Dazu zitiert er ein interessantes Beispiel aus Syrien, das aus der saudischen Zeitung Sharq al Awsat stammt. Die Zeitung will beobachtet haben, wie in der Stadt Homs zu Beginn der Proteste gegen Assad ältere Gläubige vergeblich versuchten, die "Jungen davon abzuhalten, sich nach dem Freitagsgebet in der großen Khalid-bin-Walid-Moschee einem Protestzug anzuschließen". Doch die Jungen lassen sich nicht mehr beschwichtigen. Deswegen bezeichnet Perthes die arabische Revolution als einen jugendlichen und unideologischen Aufstand gegen die Autoritäten in Staat und Gesellschaft.
Mit der deutschen und europäischen Nahost-Politik geht Perthes in der Sprache moderat, in der Sache aber durchaus hart ins Gericht. Viel zu lange habe man Stabilität mit Stagnation verwechselt und bis heute bleibe für ihn unklar, ob Entscheidungsträger und Öffentlichkeit in Europa wirklich verstanden hätten, was sich in der arabischen Welt tut. "Eine bittere Wahrheit ist, dass westliche Politik eine demokratische Entwicklung in der arabischen Welt nicht wirklich vorwärtsgebracht hat," kritisiert Perthes.
Tatsächlich wertet er vor allem den Irakkrieg als eine "politische Lebensverlängerung" für so manchen Autokraten im Nahen Osten, der zur Rechtfertigung für fehlende Demokratisierung auf das Chaos nach dem Sturz von Saddam Hussein verweisen konnte. Der Kampf gegen den Terror nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hat ebenfalls den Regimen reichlich Stoff geliefert, um ihre Verweigerung demokratischer Reformen zu ummanteln. Diese Kritik trifft vor allem die USA.
Arabischer Frühling als Herausforderung für Europa
Doch auch die europäische Politik muss sich nach ihrem Anteil an Verantwortung für die Stagnation fragen lassen. Mit ihren doppelten Standards, die sie im Nahen Osten immer wieder praktiziert hat, hat auch sie zum status quo beigetragen. Sie hat in den palästinensischen Gebieten demokratische Wahlen angemahnt, aber nach dem Wahlsieg der Hamas Anfang 2006 die Bereitschaft zum Gespräch mit den Wahlsiegern von Bedingungen abhängig gemacht, "die sie keinem anderen Akteur im Nahen Osten abforderte". In der Besetzung palästinensischen Territoriums sieht Perthes denn auch das "wichtigste Element radikaler islamistischer oder nationalistischer Mobilisierung" in der Region.
Heute hat Europa die Chance, einen Aufbruch zu unterstützen, von dem es überrascht wurde und der ohne sein Zutun entstanden ist. Perthes verlangt von Europa "stärkere politische Signale", die eine neue Haltung der Region gegenüber demonstrieren sollen. Es sollte vorrangig jene Staaten unterstützen, die sich in Richtung Demokratie bewegen. Hier könnte Perthes ein bisschen konkreter werden, denn angesichts so fragwürdiger Deals wie dem Verkauf von Kampfpanzern an Saudi-Arabien darf man ruhig bezweifeln, ob die deutsche Politik ihre Grundlinien verändert.
Was Perthes verlangt, ist aber nicht neu: einen verbesserten Marktzugang für Waren aus der arabischen Welt durch die Abschaffung von Handelshemmnissen und einen leichteren, aber gesteuerten "Zugang junger Menschen aus diesen Ländern zum europäischen Arbeitsmarkt", um den demographischen Druck auf die jungen Nationen Nordafrikas zumindest etwas zu mildern.
Was Israel betrifft, geht Perthes nicht davon aus, dass die Umbrüche in der arabischen Welt, vor allem in Ägypten, seine Existenz wirklich gefährden werden. Für die junge Generation in der arabischen Welt sei der Staat Israel längst ein Faktum. Allerdings laufe der jüdische Staat durchaus Gefahr, seine Zukunft aufs Spiel zu setzen, wenn er sich im Verhältnis zu den Palästinensern nicht bewege.
Es führe für Israel kein Weg an einer Zweistaatenlösung und der vollständigen Aufgabe der 1967 besetzten Gebiete vorbei, auch wenn die Rückgabe schmerzhaft ist. Wenn das Land aber "die Chance vertut, einen israelisch-palästinensischen Frieden auf der Grundlage der Zweistaatlichkeit zu schließen", dann laufe die Zukunft auf einen binationalen Staat hinaus, in dem Juden zur Minderheit werden. "Für Israel als jüdisch-demokratischem Staat liegt hier die eigentliche Bedrohung."
Optimistische Prognosen für die Zukunft
In seinen Prognosen für die Zukunft ist Perthes optimistisch, das Buch ist noch stark von der Aufbruchstimmung der ersten Hälfte des letzten Jahres geprägt. Ägypten und Tunesien bezeichnet er als "demokratische Konsolidierer", bei denen eine halbwegs funktionierende Demokratie im Bereich des Möglichen liegt, vor allem in Tunesien. Ägypten könnte einem Modell ähnlich wie in Indonesien folgen, das formal demokratisch ist, während viele Institutionen noch autoritäre Züge tragen. Die dramatische Entwicklung in Syrien war im Sommer 2011 noch nicht absehbar, aber seine Skepsis gegenüber der Entwicklung in Libyen verhehlt Perthes nicht. Dort hält er einen staatlichen und institutionellen Neuaufbau für sehr schwierig.
Etwas störend beim Lesen sind in den Anfangskapiteln die apologetischen Verweise des Autors auf frühere eigene Werke, in denen er den Aufbruch Arabiens vorher gesagt haben will. Das hätte Perthes eigentlich nicht nötig, ist aber vielleicht der Kritik an Think Tanks wie der SWP geschuldet.
Wenig lesefreundlich ist auch die Schreibweise arabischer Namen. Sie ist zwar näher am arabischen Original, aber für deutschsprachige Leser doch sehr ungewohnt. Alles in allem liefert Perthes eine solide Analyse, die viel zum Verständnis des Geschehens in der arabischen Welt beiträgt.
Claudia Mende
© Qantara.de 2012
Volker Perthes: Der Aufstand. Die arabische Revolution und ihre Folgen. Pantheon 2011.
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de