Wie geht die Türkei mit der Corona-Krise um?
Die Türkei ist nicht nur durch ihre geografische Lage, sondern vor allem durch das enorme Flugnetz ein internationaler Knotenpunkt. Es ist daher nur schwer vorstellbar, dass bisher nur wenige Menschen in der Türkei mit dem neuen Coronavirus in Kontakt gekommen sein sollen. Im Nachbarland Iran bahnt sich derweil eine Katastrophe an - auch, weil die Regierenden die Lage lange Zeit herunterspielten. Nach anfänglichem Zögern zeigt sich die türkische Regierung nun entschlossen und will auch dem Nachbarn helfen.
Sicher: die Türkei ist nicht der Iran. Die Infrastruktur ist um einiges besser, die Regierung nicht ganz so ideologisch verblendet wie die der Mullahs. Dennoch scheint die Lage nicht so rosig, wie die Türkei es die internationale Gemeinschaft glauben lassen will. Aus Krankenhäusern sickern vereinzelt Informationen durch, von hohem Andrang und überfordertem Personal ist die Rede.
Bedenkenlose Rückkehr in den Alltag
Und noch bis vor Kurzem sind Menschen aus Europa zurückgekehrt, auch aus Spanien und Italien - eine Kontrolle der potenziell Angesteckten hat es nicht gegeben, geschweige denn eine Quarantäne. Bewohner Istanbuls berichten, gerade erst aus Spanien zurückgekehrte Personen würden ohne jegliche Bedenken und Einschränkungen ihr soziales Leben in der chronisch überlaufenen Metropole weiterführen.
Aufsehen erregte die Nachricht, eine Gruppe von 500 frisch aus Mekka eingetroffenen Pilgern sei ohne jegliche medizinische Kontrollen in ihr normales Leben in der Schwarzmeerprovinz Rize zurückgekehrt. Die heiligen Stätten in Saudi-Arabien selbst sind derweil abgeschottet und menschenleer.
Gesundheitsminister Fahrettin Koca hatte zwar eine Quarantäne von Rückkehrern aus den heiligen Stätten empfohlen, eine erzwungene Umsetzung dieser Empfehlung blieb jedoch bis heute aus. Selbst der Bürgermeister von Çayeli, einer Stadt in Rize, besuchte einen der Rückkehrer zuhause und teilte überdies Bilder des Besuchs im Internet. Der örtliche Ärzteverband forderte härtere Maßnahmen und eine genaue Dokumentation der Personen und Orte, die die Pilger seit ihrer Rückkehr aufgesucht haben, räumt jedoch gleichzeitig ein, dass es in diesem Fall bereits zu spät sei.
Den Flugverkehr von und nach Europa hat die Türkei mittlerweile eingestellt, Schulen und ähnliche Einrichtungen setzen den Unterricht vorerst aus. Geschäfte, Lokale, Vergnügungsstätten und ähnliches müssen seit dem 17. März geschlossen bleiben. Nach einem letzten großen Freitagsgebet, bei dem der Präsident des Religionsministeriums, Ali Erbaş die zahlreichen Anwesenden skurrilerweise dazu aufforderte, Menschenansammlungen zu meiden, wurden Freitagsgebete sowie gemeinschaftliches Beten landesweit untersagt.
Doch nicht alle Menschen wollen sich an die Vorgaben halten: vielerorts verkündigen Gläubige, nur Gott entscheide über Leben und Tod, ihre Gebete aber wollen sie in jedem Falle weiter verrichten. Nicht nur im religiösen Teil der Bevölkerung werden eher fakten- denn virenresistente Stimmen laut. Flaneure antworten den erstaunten Journalisten in Einkaufsmeilen, sie hätten keine Angst sich unters Volk zu mischen, schließlich sehe man weit und breit keine Viren. Ebenso wie in Deutschland steht die gesamte Gesellschaft vor der schwierigen Aufgabe, zumindest einem Großteil der Bevölkerung den Ernst der Lage klar zu machen.
Verschwörungstheorien und Populismus verbreiten sich rasant
Zu all dem gesellen sich rassistische und populistische Ressentiments: In Kleinbussen halten Menschen ungefragt hetzerische Vorträge, das "verdammte Volk der Juden" stehe hinter der Pandemie, wie im Internet kursierende Videos belegen. Selbst das staatsnahe Fernsehen zieht mit: In dem auch in Deutschland empfangbaren Sender ATV kommentiert der eigens anlässlich der Corona-Krise geladene "Experte", das Virus werde natürlich von denen verbreitet, die auch die Medizin dafür schon bereit hätten - und fügt hinzu, dass Israel kurz davor stehe, eine Impfung zu entwickeln. Der Moderator scheint besorgt, nicht alle Zuschauer verstünden, was gesagt werde, und fügt hinzu: "Das bedeutet, Israel hat den Virus erfunden?". "Ja genau!", antwortet der Experte zufrieden.
Kaum zurückhaltender gibt sich der Vorsitzende der islamischen Splitterpartei "Yeniden Refah Partisi", Fatih Erbakan: Man habe keine eindeutigen Beweise, aber es sei wahrscheinlich, dass der Zionismus hinter dem Virus stehe. Fatih Erbakan ist übrigens der Sohn von Necmettin Erbakan, Gründer der Millî-Görüş-Bewegung, die in Deutschland unter dem Namen IGMG aktiv ist.
[embed:render:embedded:node:39536]Dieser Antisemitismus bleibt glücklicherweise meist ohne direkte Folgen für die Juden der Türkei. Menschen aus Ostasien hingegen sind vermehrt Stigmatisierungen und auch direkter Gewalt ausgesetzt. So berichten Menschen aus Korea, China und Japan über die sozialen Medien von offenen Anfeindungen und Beleidigungen, von Anschuldigungen, man sei an dem Virus schuld, sowie Drohungen und tätlichen Angriffen. Manche dieser Personen kündigten an, die Türkei umgehend verlassen zu wollen.
Die Katastrophe ruft nach einer gemeinsamen Strategie
Am schlimmsten dürften es jedoch den unteren Rand der Gesellschaft treffen: verarmte Arbeiter, die auf jede Lira angewiesen sind und weiter zur Arbeit gehen, um nicht zu verhungern, die Millionen Geflüchteten, die oft ohnehin zusammengepfercht und unter unhygienischen und ungesunden Umständen leben, und die Obdachlosen, die durch die schwachen Sozialsysteme nicht aufgefangen werden.
Gerade die Situation an den Grenzen muss von den türkischen Behörden genau verfolgt werden. Im Westen könnte die äußerst prekäre Lage in den griechischen Auffanglagern jederzeit eskalieren, von denen viele nahe der türkischen Grenze liegen. Die Insel Lesbos liegt nur wenige Kilometer vom türkischen Festland entfernt - sollte die Katastrophe eintreten, werden sicherlich viele Menschen versuchen, diesmal in Richtung Türkei zu fliehen.
Am anderen Ende grenzt die Türkei an den Iran, in dem das Coronavirus beinahe unkontrolliert tobt. Der Nordirak vermeldet bereits steigende Infiziertenzahlen und hat umfassende Einschränkungen verordnet, während die Lage in Syrien unüberschaubar bleibt. Um Schlimmeres abzuwenden, sollten die Staaten der Region sich auf eine gemeinsame Strategie verständigen, bevor noch mehr Geflüchtete zwischen den sich abschottenden Grenzen zerrieben werden.
"Türkische Gene" schützen nicht
Angesichts des erbärmlichen Bildes, das die EU-Länder inpunkto Gemeinschaftsgeist und Solidarität angesichts der Flüchtlingskrise bieten, eine beinahe utopische Vorstellung. Immerhin: das türkische Gesundheitsministerium kündigte an, den Iran mit zahlreichen medizinischen Gütern zu unterstützen, darunter 1.000 Schnelltests, 4.000 N95-Masken sowie 78.000 einfache Atemmasken. Wie verlässlich die türkischen Corona-Testkits sind, ist jedoch fraglich; die Regierung hatte vor wenigen Tagen noch bekanntgegeben, über keine Testmöglichkeiten zu verfügen.
Nach anfänglicher Ignoranz hat die türkische Regierung inzwischen den Ernst der Lage zumindest innerhalb der eigenen Grenzen größtenteils erkannt. Während vor kurzem noch im Fernsehen spekuliert wurde, die "türkischen Gene" schützten möglicherweise vor dem Coronavirus, wurde nun eine Hotline inklusive Beratung auf Arabisch eingerichtet. Anweisungen zur Eindämmung des gesellschaftlichen Lebens sowie für die Einhaltung der notwendigen Hygiene werden über alle staatlichen Kanäle verbreitet. Auf der Website des Gesundheitsministeriums erscheint als erstes ein Video mit 14 Hinweisen für einen bestmöglichen Umgang mit der Pandemie.
Staatlichen Angaben zufolge sind bisher nur 98 Personen mit dem Virus infiziert, zwei verstorben, drei weitere Menschen schweben in Lebensgefahr. Nicht wenige Stimmen behaupten, dass die Dunkelziffer in Wirklichkeit weitaus höher liegen dürfte.
Es steht und fällt nun alles mit der Fähigkeit der türkischen Regierung, falsche Schuldzuweisungen und Verschwörungstheorien zugunsten medizinisch korrekter und vorausschauender Informationen zu unterdrücken, aber auch mit eigenen Unzulänglichkeiten ehrlich umzugehen und den vergleichsweise schwächer dastehenden Nachbarländern Hilfe anzubieten.
Tayfun Guttstadt
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