Afghanistans Stimme am Leben halten
Es ist ein großes Glück, dass einige im Exil lebende Afghanen versuchen, das musikalische Erbe ihres Volkes zu erhalten. Einer von ihnen ist Quraishi mit seiner neuen Veröffentlichung, die als wunderbares Beispiel für die Schönheit und Komplexität der afghanischen Musik gelten kann.
Der in Kabul als Sohn einer Musiker- und Instrumentenbauer-Familie geborene Quraishi lernte die Musik und die Tradition der vielfältigen ethnischen Gruppen Afghanistans, wie die der Paschtunen, der Usbeken und der Tadschiken, bereits früh kennen. Seine erste Rubab, die afghanische Version der Schalenhalslaute, die vom Iran bis Indien gespielt wird, hatte sein Vater für ihn gebaut. Daher widmete ihm Quraishi auch sein neues Album "Mountain Melodies".
Die neun Lieder auf der CD sind eine Mischung aus originalen und traditionellen Songs. Eins von ihnen, "Wardagi", vereint die Melodien von drei verschiedenen traditionellen Volksliedern, die Quraishi stets von seinem Vater vorgesungen bekam.
Geographische Wurzeln der Musik
Jeder einzelne Song zeigt nicht nur den einzigartigen Klang der Rubab, sondern auch, wie Afghanistans geographische Lage die Musik geformt hat. An der ehemaligen Seidenstraße gelegen und ebenso an Indien und Pakistan angrenzend vereint die Musik gleichzeitig Einflüsse aus China und Nord-Indien.
Die Einzigartigkeit der Rubab unter den vielen Zweikammern-Zupfinstrumenten der Region besteht vor allem in der Integration indischer Instrumente wie der Sitar. Denn während die drei Melodiesaiten einen tieferen Ton spielen als andere Instrumente dieses Typs, ermöglichen die Resonanzsaiten einen wesentlich größeren melodischen Tonumfang. Auf dem neuen Album verwendet Quraishi beide Techniken – mit dem Effekt, dass sein Instrument wie mehrere klingt.
Ähnlich wie die traditionelle Musik anderer Länder der Region ist die afghanische Volksmusik eine Mischung aus Improvisation und festgelegten melodischen Mustern, die auch als Ragas bekannt sind. So beginnt jedes Stück mit einer improvisierten Einleitung, welche dann zu einer der verschiedenen Formen des Raga führt. Gegenüber den formalen Regeln der Improvisation in der klassischen süd-indischen Musik, erlaubt die afghanische Spielweise dem Künstler wesentlich mehr Freiheiten, glaubt Quraishi. Diese freie Interpretation erinnert daher bisweilen auch an Jazz.
Komplexität und Schönheit
Angesichts der beachtlichen Klangfülle und der komplexen rhythmischen Muster ist Quraishis musikalisches Können auf dem recht schlicht wirkenden Instrument überaus erstaunlich. Jedes Lied auf dem Album wird von einem Perkussionisten begleitet, wobei jeder Song eine bemerkenswerte Reise in eine neue Welt der Musik darstellt.
Obwohl die bereits erwähnten externen Einflüsse in den Liedern zu hören sind, ist offensichtlich, dass die Musik eng mit dem afghanischen Land verwurzelt ist. Der asketische und gleichzeitig ästhetisch-schöne Klang ist eine Reflektion der Berge und der Wüste dieses Landes. Vor dem inneren Auge hat man ein Bild davon, wie die Musik in isolierten Bergdörfern oder Wüstencamps gespielt wird.
Man kann sich gut vorstellen, wie die Echos von den felsigen Klippen zurückhallen oder durch den Wind über Meilen von Sand getragen werden, sodass nicht nur die Menschen, sondern auch das Land diese Melodien hört. Wie diese Klangwelten von Quraishi komponiert und zusammengehalten werden, ist ein Ausdruck der einzigartigen und komplexen Identität des Landes.
Das Album "Mountain Melodies" verleiht all jenen Afghanen eine Stimme, die durch Krieg und Unterdrückung zu lange geduldig und ruhig geblieben sind. Und auch wenn Quraishi nicht in dem Land lebt in dem er geboren wurde, unternimmt er alles Mögliche um Afghanistans Stimme am Leben zu erhalten.
Richard Marcus
© Qantara.de 2014
Übersetzt aus dem Englischen von Annalena Junggeburth
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de