"Mehr fühlen als rechnen"
"Was erwartet einen jetzt?", fragt man sich, wenn die Musiker des "Anatolian Jazz Orchester" nach und nach die Bühne betreten. Der Trompeter und der Saxophonist nehmen ihre Plätze ein, dann die Posaunisten, der Schlagzeuger und der Bassist, schließlich die Sängerin und ein Lautenspieler. Zu elft stehen sie da – und schon geht es los.
Gleich die ersten Akkorde umhüllen den Zuhörer mit einem vollmundigen Bigband-Sound und in Solostellen spielt – man ist erstaunt – die anatolische Langhalslaute dieselbe Melodie mit dem Saxophon. Dass das funktioniert, überrascht.
"Bis wir soweit waren, hat es lange gedauert", erzählt Schlagzeuger Peer Triebler. Die Anfänge des Orchesters reichen zurück ins Jahr 2005. Damals gründete der türkische Musiker Remzi Emek die Anfangsformation. Doch anfänglich, erzählt Triebler, klang alles vor allem nach Jazz. Die anatolischen Ursprungsstücke hätten auch Kenner beim besten Willen nicht heraushören können.
Ein neuer, eigenständiger Klang
Die Stücke sollten ihren eigentlichen Charakter behalten, das war den Musikern wichtig. Es begann die Experimentierphase. Die beiden Musikstile sollten nicht nebeneinander stehen. Auch nicht "aneinander geheftet werden". Die Musiker wollten nicht nebeneinander her, sondern miteinander spielen. Ihre Musik sollte sich treffen, fusionieren, ineinander fließen, einen neuen, eigenständigen Klang und damit eine Kulturmischung schaffen.
Die leise Langhalslaute (Bağlama) oder die Rohrflöten (Mey und Duduk) in das Bläserarrangement einzugliedern, die beiden völlig unterschiedlichen Klänge miteinander zu verbinden, stellte die Vollblutmusiker vor eine Herausforderung.
Dass dem elfköpfigen Ensemble das gelungen ist, beweist ihre 2009 erschienene CD Zeytin Ağacı (Olivenbaum). Zehn Stücke, arrangiert mit dynamischen Jazzrhythmen und satten Bläsersätzen. In dem auf dem Volkslied Mor Koyun (Lilanes Schaf) basierenden Stück spielen Langhalslaute und Trompeter organisch miteinander, die Trompete erwidert die Melodie der Langshalslaute. Besonders gut passt auch, wenn der Gesang von Sibel Eğilmez im Stück Merak (Neugier), das von derAnkunft des Frühlings handelt, von Posaune und Trompete begleitet wird.
Die Jazzmusik scheint sich hervorragend dazu zu eignen, um die klagende Melancholie anatolischer Volksweisen in ihre Harmonien zu betten und deren ausgefallenen und zum Tanz einladenden Rhythmen zu unterstreichen.
Seit seiner Entstehung hat der Jazz zahlreiche musialische Entwicklungen und Variationen erfahren. Und so entsteht durch seine Begegnung mit den für die anatolische Musik typischen Formen Uzun hava (Lange Luft) und Kırık hava (Gebrochene Luft) eine weitere neue Spielart. Dennoch stellten die anatolischen Melodien die Musiker vor einige Probleme.
"Da sind wir dann doch etwas preußisch"
So zum Beispiel den Rhythmen, dem 5/8- oder 7/8-Takt, der in der westlichen Musik nicht gebräuchlich ist. "Da sind wir dann doch etwas preußisch", lacht Triebler, der in Dresden Musik studiert hat. Die anatolischen Lieder seien mehr von der Melodie bestimmt, der Rhythmus spiele eine untergeordnete Rolle, er entstehe bei den Tanzstücken quasi automatisch. "Das Schöne ist", sagt Peer Triebler, "wenn man sich ein bisschen mehr drauf einlässt, kommt man an den Punkt, dass man sagt, man muss jetzt mehr fühlen als rechnen."
Ein weiterer Unterschied ist, dass die anatolische Musik einstimmig ist. Es gibt nur eine bestimmte Skala und den Rhythmus. Dagegen lebt die Jazzmusik durch die Akkorde und Harmonien. "Im herkömmlichen Jazz gibt es drei Elemente", erklärt Triebler, "die Melodie, die Akkorde, also wie die Melodie begleitet wird, und den Rhythmus." In der anatolischen Musik fällt die zweite Ebene weg. Wenn die Jazzakkorde sich über die anatolischen Vierteltöne legen, die teilweise auf dem Klavier oder der Gitarre gar nicht gespielt werden können, entsteht eben dieser einzigartige Sound.
Die einzige Ähnlichkeit zwischen den beiden Stilen ist die Improvisation, die es in beiden Kulturen gibt. Wollte man anatolische Volkslieder mit einem westlichen Musikstil vergleichen, wäre der Blues ihm noch am ähnlichsten, meint Özgür Ersoy. Er spielt die türkischen Instrumente. "Ein John Lee Hooker, der über sein Leben und sein Leid singt, einzig begleitet durch seine Gitarre, lässt sich vielleicht mit einem Epensänger vergleichen, einem sogenannten bozlak, der in freiem Gesang seine Geschichte erzählt. Er improvisiert ohne Rhythmus und ohne eine bestimmte Skala und erzählt von Lustigem und Traurigem. Etwa wie die Sänger Neşet Ertaş und Aşık Veysel."
Entdeckung musikalischer Raritäten
Wenn Özgür Ersoy die Lieder aussucht, ist ihm wichtig, dass es bekannte Lieder sind. Am liebsten mag er Tanzstücke. Sie sollen das Publikum ansprechen. Gleichzeitig entdeckt er durch seine Arbeit immer wieder musikalische Raritäten aus seiner Heimat. "Der musikalische Schatz Anatoliens ist unheimlich reich", erzählt er. "Man entdeckt immer wieder neue völlig unterschiedliche Stücke." So können Rhythmen und Skalen von Liedern, die aus benachbarten Dörfern mit nur wenigen Kilometern Entfernung zueinander stammen, völlig unterschiedlich sein.
Im Moment gilt das "Anatolian Jazz Orchester" noch als Berliner Geheimtipp, der vor allem Jazzliebhaber anzusprechen scheint. "Wir dachten immer, unsere Musik würde wesentlich mehr türkische Leute faszinieren", erzählt Triebler nicht ohne eine gewisse Enttäuschung. "Ich glaube, für sie ist es wesentlich schwerer, damit umzugehen, dass ihre Lieder jetzt auf einmal so ganz anders gespielt werden als für uns Mitteleuropäer."
Für Özgür Ersoy öffnet ihre Musik Türen in zwei Richtungen. "Durch unsere Musik erhalten Jazzliebhaber einen Zugang zur anatolischen Musik. Und Menschen in Anatolien, die keinen Bezug zu Jazz haben, können ihn durch unsere Musik kennenlernen."
Bleibt in jedem Fall zu wünschen, dass die elf experimentierfreudigen Jazzmusiker noch viele Menschen mit der Freude, die sie an ihrer Musik haben, anstecken werden.
Ceyda Nurtsch
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