Die Orientalisierung des Orientalismus
Der Weg in den Club Berghain im Berliner Viertel Friedrichshain führt an diesem Abend durch Schlamm. Ein schmaler, matschiger Feldweg, an dessen Ende sich das massive Betongemäuer imposant in die schwarze Nacht erhebt. Das Berghain, längst auch über die Berliner Stadtgrenzen bekannt, ist ein Techno-Club schlechthin. Einst ein Heizkraftwerk steht es heute synonym für Exzess, Darkrooms und wummernde Bässe.
Doch wo sonst aus Riesenboxen Technobeats und House donnert, erklingen an diesem Abend fremdartige Töne. Das Kammermusikensemble "Musica Sequenza" unter der Leitung des türkischen Fagottisten Burak Özdemir lädt ein zu einem musikalischen Crossover-Erlebnis. Auf dem Programm steht "Rameau à la Turque", eine Fusion von Teilen der Ballettoper "Les Indes Galantes" des französischen Barockkomponisten Jean-Philipe Rameau mit Kompositionen des osmanischen Hofmusikers Tanburi Mustafa Çavuş, arrangiert von Özdemir selbst.
Der Spot geht an, der nasale Ton des Fagotts ertönt in Begleitung von Cembalo und Geige, erst zaghaft, dann zunehmend selbstbewusster. Es entsteht eine sakrale und zugleich intime Atmosphäre. Von dem zehnköpfigen Ensemble spielen drei Musiker orientalische Instrumente: die Rohrflöte Ney, die orientalische Kastenzither Kanun und das Rhythmusinstrument Kudüm. In Özdemirs Fusions-Arrangement spielt sein Fagott gemeinsam mit der Ney orientalische Melodien oder orientalische Rhythmen unterlegen den westlichen feierlichen Hof-Barocktanz.
Ein Barockhipster à la Turque
Im Stück "Danse du Grand Calumet" steigt in das von Geigen und Cembalo geführte Motiv wie eine Kaskade das Kanun ein, um dann von der Ney mit einer Oberstimme begleitet zu werden.
Özdemir selbst inszeniert sich als Barockhipster: Die langen dunklen Haare zu einem lässigen Dutt gebunden, Fliege, weißes Glitzerhemd, Blazer, Knickerbocker, weiße Strümpfe. Leichtfüßig tänzelnd dirigiert er mit minimalen Armbewegungen und seinem schlanken Körper das ganz in schwarz gekleidete, um ihn herum angeordnete Ensemble.
Auf der Bühne nimmt man das Bild eines träumerischen Paradiesvogels wahr, im persönlichen Gespräch wirkt er aufmerksam und fokussiert. Der 1983 geborene Musiker weist einen Lebenslauf vor, den jeder Karrierecoach als "lückenlos" beschreiben würde: Musikkonservatorium in Istanbul, Studium an der Universität der Künste in Berlin, dazwischen Promotion an der Juilliard Scholl in New York. Daneben etliche Projekte, unter anderem mit der Choreographin Sasha Walz. "Das hat sich alles organisch entwickelt", so Özdemir, dessen Vater Professor für Komposition am Musikkonservatorium in Istanbul war.
Spiel mit Stilen und Epochen
Woher kommt die Leidenschaft des passionierten Barockfagottisten für die Fusion, die Inszenierung an untypischen Orten? "Bei mir ging es immerdarum", beschreibt er sein Schaffen. Immer habe ihn das Crossover gereizt: Mischungen aus elektronischen Sounds und Barockmusik, Neuinterpretationen wie Vivaldis "Vier Jahreszeiten" oder Bachs "Silent Cantata", Pergolesi mit moderner Oper. Özdemir liebt das Spiel mit Stilen und Epochen.Zu seinem neuesten Projekt "Rameau à la Turque" inspirierte ihn die Auseinandersetzung mit seiner Herkunft. Seine Familie ist eine der wenigen, die seit Generationen in der Stadt am Bosporus leben.
"Ich entdeckte die vielen französischen Spuren in Istanbul, die Straßennamen und Straßenschilder. Französisch war die Sprache meiner Großeltern und als mein Vater am Konservatorium studierte, lernte er auf Französisch. In Istanbul verfolgte man die Mode in Paris sehr aufmerksam und gleichzeitig finden sich in der europäischen Malerei des 18. Jahrhunderts orientalische Motive", erzählt er begeistert. So entsteht die Idee, die orientalischen Instrumente Kudüm, Ney und Kanun neben westliche Barockinstrumente zu arrangieren.
In dem von Özdemir ausgewählten Ausschnitt "Le Turc généreux", Der großmütige Türke, aus Rameaus Barockoper, schenkt ein gnädiger Pascha einer von ihm angebeteten Christin und dem Sklaven, dem ihr Herz gehört, die Freiheit. Ein damaliges Beispiel "exotischer Liebe" und ein Motiv, das knapp 90 Jahre danach Wolfgang Amadeus Mozart in seinem Singspiel "Die Entführung aus dem Serail" aufnimmt.
Verwebung von westlicher Barock- mit osmanischer Hofmusik
Durch sein Zusammenspiel mit Kompositionen von Rameaus Zeitgenossen, dem 1770 verstorbenen Tanburi Mustafa Çavuş, belebt Özdemir nicht nur zwei fast in Vergessenheit geratene Komponisten und ihre Werke wieder. Durch die Verwebung von westlicher Barock- mit osmanischer Hofmusik unternimmt er quasi, nicht ohne ein musikalisches Augenzwinkern, die Orientalisierung des Orientalismus von Rameau.
Die beiden Zeitgenossen Rameau und Çavuş entstammen unterschiedlichen Musiktraditionen. Während die Musikausbildung in Frankreich elaboriert ist, wird sie am osmanischen Hof noch durch strickte traditionelle Vorschriften reglementiert und entwickelt sich erst mit Münir Nurettin Selçuk um 1900. Auch ist in der osmanischen Serailmusik streng vorgeschrieben, dass immer ein Trio aus den Instrumenten Ney, Kanun, Kudüm spielt, während sich Rameau aus einer Vielzahl von Instrumenten bedienen konnte – entsprechend dem Klang, den er erzeugen wollte.
"Der größte Unterschied", erklärt Özdemir, "besteht darin, dass die westliche Musik polyphon, d.h. mehrstimmig ist, während die osmanische Musik einstimmig ist." Doch er sieht auch Gemeinsamkeiten: So sind die Phrasen und Motive besonders in der französischen Barockmusik noch kürzer als später in der Romantik.
Eine kurze Phrasierung findet sich auch in der osmanischen Musik. "Auch ist bei Barockinstrumenten nicht genau festgelegt, wie das Instrument gestimmt werden soll. Da gibt es verschiedene Arten wie Valotti oder Werkmeister. Etwas Vergleichbares haben wir in der orientalischen Kunstmusik mit den Maqamen, den Modi, wie uşşak oder nihavend."
"Ich habe solide Musiker"
Die Stücke zu erarbeiten, habe das Ensemble vor einige Herausforderungen gestellt. So mussten sich die Musiker der orientalischen Instrumente an die Mehrstimmigkeit gewöhnen, auf die Pausen und den richtigen Einsatz. Für die Musiker der westlichen Instrumente, sei es eine Herausforderung gewesen, die richtigen Vierteltöne herauszuarbeiten und sich etwa an9/8-Rhythmen zu gewöhnen. "Aber ich habe solide Musiker", so Özdemir über sein Ensemble.
"Musica Sequenza" spielen auf Nachbauten originaler Barockinstrumente. Für digital verwöhnte Ohren ein im ersten Augenblick etwas dumpfer Klang, der aber beim längeren Hinhören besonders bei den ruhigeren Stücken eine warme Tiefe entwickelt. Während bei modernen Streichinstrumenten die Saiten aus Stahl sind, sind sie bei den Instrumenten aus dem 18. Jahrhundert aus Naturdarm gefertigt. Der Körper der Geige ist schmaler und auf dem Bogen ist mehr Druck, was einen fokussierteren Klang erzeugt als bei den modernen Instrumenten.
Die Blasinstrumente dagegen haben weniger Löcher als die heutigen Instrumente und sind daher schlichter und weniger automatisiert. "Der Musiker muss mehr selbst machen. Sie sind flexibler in der Klangfarbe und in diesem Punkt ähneln sie der Ney", weiß Özdemir.
"Rameau à la Turque" ist eine musikalische Perle des jungen sensiblen Künstlers, dessen bisheriges Schaffen die New York Times zu Recht als "mehr als energetisch" lobt und von dem in Zukunft gewiss noch viel zu erwarten ist.
Ceyda Nurtsch
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