Kochen zwischen den Extremen
Moshe Shrefler betreibt das "Azura" gemeinsam mit seinen drei Brüdern und seinem Vater Ezra, der 1939 aus dem türkischen Diyarbakir nach Israel auswanderte. Seit mehr als einem halben Jahrhundert strömen die Menschen nun schon in ihr Restaurant auf dem Mahane-Jehuda-Markt in West-Jerusalem, um herzhafte Fleischeintöpfe zu essen, die meist stundenlang über dem Kerosinherd köcheln.
Die Hälfte der 30 Angestellten sind Palästinenser: Köche, Putzhilfen und Tellerwäscher, die alle im Osten der Stadt leben. Die andere Hälfte bilden die israelischen Kellner. "Meine palästinensischen Mitarbeiter kommen hierher, um Geld zu verdienen", erzählt Shrefler. "Sie arbeiten schon seit Jahren für mich und ich vertraue ihnen. Natürlich könnte einer von ihnen auf die schiefe Bahn kommen. Doch was soll ich tun? Ich habe ein Geschäft zu betreiben!"
Seit Anfang letzten Monats haben Palästinenser sieben Israelis bei Schießereien, Messerstechereien und Anschlägen mit Autos getötet. Mindestens 31 Palästinenser - inklusive der Attentäter - starben bei Auseinandersetzungen mit den israelischen Sicherheitskräften. Eine neuerliche Gewaltwelle erschütterte Jerusalem. Israel setzte hunderte zusätzliche Polizisten ein, die Armee errichtete in vielen Vierteln im Osten der Stadt Kontrollpunkte.
Israelis und Palästinenser - bei der Arbeit vereint
Eines Tages war das "Azura" plötzlich menschenleer. Shrefler nahm daraufhin sechs Gerichte von seiner Karte und machte 80 Prozent weniger Umsatz als sonst. "Ich will um vier dicht machen und nach Hause gehen", sagt der 39-Jährige. "Ich mag diese Atmosphäre hier nicht."
Mosab Almator, der altgediente Koch des "Azura", ist Palästinenser. Er erzählt, er versuche die Nachrichten, so gut es gehe, zu ignorieren. Almator lebt im Flüchtlingslager Shuafat und arbeitet seit 15 Jahren für Moshe Shrefler. Morgens um 6 Uhr beginnt er seine Arbeit und bereitet gemeinsam mit seinem Chef Gerichte wie Bohnen mit Reis, Rinderlunge und kurdische Teigtaschen zu. "Ja, es ist wahr, da draußen herrscht ein Krieg", sagt er. "Aber bei der Arbeit sind wir Brüder."
Und Tellerwäscher Rami Frukh berichtet, dass das "Azura" mehr als die meisten palästinensischen Restaurants bezahle. Die aufgeheizte Stimmung in der Stadt hat er zu spüren bekommen, als er vor Kurzem drei Mal auf dem Weg zur Arbeit von der Polizei angehalten wurde. Frukh lebt in Wadi al-Joz, einem Viertel nahe der Jerusalemer Altstadt. "Sie haben mich eine halbe Stunde lang festgehalten und nach Messern durchsucht", sagt er.
Ungleichheit zwischen Ost und West
Zwei Drittel der 850.000 Bewohner von Jerusalem sind jüdische Israelis. Der Rest sind christliche und muslimische Palästinenser, die in Ost-Jerusalem leben. Im Sechs-Tage-Krieg von 1967 wurde dieser Teil der Stadt von Israel erobert. Die meisten Menschen hier haben keine israelische Staatsangehörigkeit und beteiligen sich nicht an den Wahlen in Jerusalem. Sie zahlen aber kommunale Steuern, besitzen mit der sogenannten Jerusalem-ID ein Aufenthaltsrecht und haben Zugang zu Gesundheitssystem, Versicherungsleistungen und Schulsystem. Seit Jahrzehnten schon beschweren sich die Palästinenser über eine ungleiche Behandlung, beispielsweise in Hinblick auf Bildung und Infrastruktur. Die Armutsquote liegt in Ost-Jerusalem bei mehr als 70 Prozent.
Die Ungleichheit zwischen Ost- und West-Jerusalem zwingt die Menschen dazu, zusammenzuarbeiten. Nach Information der Tageszeitung "Haaretz" ist die Hälfte der Palästinenser, die aus Ost-Jerusalem stammen und einen Job haben, im Westen der Stadt oder in anderen Städten in Israel beschäftigt. Sie bilden die überwältigende Mehrheit der Hotelangestellten, Bauarbeiter, Bus- und Zugfahrer der Stadt. "Eine Abriegelung Ost-Jerusalems würde eine sofortige und ernsthafte ökonomische Krise für die gesamte Stadt bedeuten", meint Nir Hasson, Jerusalem-Korrespondent der israelischen Tageszeitung "Haaretz".
Zwischen Misstrauen und Verständigung
Das jüngste Klima der Gewalt in Jerusalem hat auf die Menschen einen spürbaren Eindruck hinterlassen. So auch auf Natalie Geva. Die Kellnerin im "Azura" erzählt, sie habe sich in den letzten Wochen auf dem Weg zur Arbeit immer wieder nach hinten umgesehen. Aus Angst. Im Kreis ihrer Kollegen fühlt sie sich jedoch wohl. Durch ihre Arbeit im "Azura" und ihre Unterhaltungen mit Koch Almator habe sie mehr über das Leben der Palästinenser erfahren. "Ich weiß, wie sein Leben aussieht und dass er seinen Kindern Bildung ermöglichen will", sagt sie. "Er arbeitet wirklich sehr hart dafür. Ich bin mir bewusst, dass das Leben für die Palästinenser sehr schwierig ist."
Das Essen im "Azura" ist so gut, dass die israelische Auswanderin Barbara Arama immer hier Halt macht, wenn sie gerade aus Florida zu Besuch in Jerusalem ist. "Ich denke nicht darüber nach, ob einer der palästinensischen Köche in mein Essen gespuckt haben könnte oder nicht", sagt die 72-Jährige. "Ich esse einfach und genieße. Wenn ich so denken würde, könnte ich in den meisten Restaurants nicht essen, denn dort arbeiten fast ausschließlich Palästinenser."
Während Arama sich mit ihrem Ehemann unterhält, schiebt sich Tellerwäscher Omar Abu Sbitan an ihr vorbei und macht Mittagspause. Dabei liest er auf seinem Handy die neusten Nachrichten. Er sagt, er könne die Palästinenser, die Israelis attackieren, verstehen. "Ich unterstütze sie. Ohne sie werden wir unsere Heimat nie befreien", sagt Abu Sbitan, der auf dem Ölberg nahe der Altstadt lebt. "Inshallah werde ich einmal einer von ihnen sein." Doch diese Aussage klingt unglaubwürdig, denn gleich anschließend erzählt er, dass er sich zum Koch ausbilden lasse. "Ich bin hier zufrieden", sagt Abu Sbitan. "Mein Chef ist ein guter Mann."
Daniella Cheslow
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