Tödlicher Ernst?
Am 3. November zündete Recep Tayyip Erdoğan eine politische Bombe, deren Detonation zunächst nur wenig Beachtung fand: Der türkische Premierminister äußerte in einer Rede auf dem 10. Jahrestag des ersten Wahlsiegs seiner Partei, der nach wie vor regierenden AKP, dass laut öffentlichen Umfragen die türkische Bevölkerung eine Wiedereinführung der Todesstrafe befürworte.
Fast zweieinhalb Stunden sprach Erdoğan über die Erfolge der AKP und seine eigenen Zukunftsvisionen, ohne dabei jedoch auf die noch immer laufenden EU-Beitrittsverhandlungen einzugehen. Bei seinen Äußerungen über die Todesstrafe schwang die unterschwellige Botschaft eines Staatsführers mit, der die Präsidentschaft seines Landes anstrebt. Eine EU-Mitgliedschaft der Türkei steht nicht länger oben auf der Agenda.
Abkehr von Europa
Nur wenige Beobachter hätten erwartet, dass Erdoğan die Debatte um die Wiedereinführung der Todesstrafe so konsequent weiterführen würde. Doch schon am 9. November, auf dem "Bali Democracy Forum" in Indonesien, argumentierte er, dass die Todesstrafe "in manchen Situationen legitim" sei und bezog sich dabei auf den Fall des norwegischen Massenmörder Anders Breivik.
Erdoğan erklärte, der Staat solle nicht die Autorität haben, einem Killer zu vergeben und fügte hinzu: "Diese Autorität liegt bei der Familie der Opfer und nicht bei uns" – ein klarer Hinweis auf die religiöse Legimitierung der Todesstrafe.
Zwei Tage später forderte Erdoğan auf einer Pressekonferenz, die Türkei solle sich nicht länger nur an dem Beispiel der Europäischen Union orientieren, sondern seinen Blick auf andere Länder wenden, in welchen die Todesstrafe praktiziert werde. Wörtlich sagte er: "Die internationale Gemeinschaft besteht nicht nur aus der EU. Die Todesstrafe existiert in den USA, China, Russland und Japan."
Erst 2002 schaffte die Türkei die Todesstrafe ab, um sich den Richtlinien der EU anzunähern und so die Mitgliedschaftsannahme zu beschleunigen. Seitdem hat sich im Aufnahmeprozess jedoch wenig getan, ohne dass es einen bestimmten Grund hierfür gibt, und die Türkei wirft Europa offiziell dessen Widerwillen vor.
Hungerstreik und Kurdenkonflikt
Erdoğans Bemerkungen über die Todesstrafe wurden von pro-kurdischen Politikern als Erpressung der kurdischen Bevölkerung verstanden, wobei sie sich vor allem auf die rund 700 pro-kurdischen Hungerstreikenden in türkischen Gefängnissen bezogen.
Die Häftlinge hatten drei Forderungen gestellt: Die Beendigung der Isolationshaft von Abdullah Öcalan, dem Führer der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK, dessen 1999 erteiltes Todesurteil in lebenslängliche Haft umgewandelt worden war, die Akzeptanz des Kurdischen als gültige Sprache vor Gericht und zudem die Akzeptanz des Kurdischen als Unterrichtssprache an türkischen Schulen.
Der Hungerstreik hatte am 12. September begonnen und endete am 17. November, nachdem Öcalan selbst die Gefangenen zur Beendigung aufgerufen hatte und somit ein weiteres Mal unter Beweis stellte, dass er die Organisation nach wie vor kontrolliert.
Am 11. November, noch während der Hungerstreik andauerte, hielt Selahattin Demirtaş von der pro-kurdischen "Partei für Frieden und Demokratie" (BDP) in Diyarbakır eine Rede, um den Beginn des zweiten Monats des Hungerstreiks einzuläuten. Er beschuldigte Erdoğan der Erpressung des kurdischen Volks, das die Hungerstreikenden repräsentierten und warf ihm vor, Öl ins Feuer zu gießen, anstatt eine akzeptable Lösung zu suchen. Demirtaş, von Beruf Anwalt, meinte zudem, dass Öcalan rückwirkend nicht die Todesstrafe erhalten könne, selbst wenn das Parlament für eine Wiedereinführung stimmen sollte.
Abschied vom parlamentarischen System?
Der türkischen Tageszeitung "Radikal" zufolge könnte Edoğan noch ein weiteres Ziel verfolgen: Nach der Meinung von Murat Yetkin verfolge er, während er die Debatte um die Todesstrafe aufrecht erhalte, die Etablierung eines Präsidialsystems, anstelle des türkischen parlamentarischen Systems.
Gegenwärtig arbeitet das türkische Parlament an einer neuen Verfassung. Eine der Forderungen der AKP besteht in der Schaffung eines starken Präsidialsystems. Obwohl dies nie offiziell verkündet wurde, zweifelt niemand daran, dass Erdoğan das Amt des Präsidenten anstrebt – ein Amt, das er zuvor mit deutlich mehr Autorität ausstatten will.
Den politischen Parteien, die versuchen einen Konsens über die neue Verfassung zu finden, läuft jedoch die Zeit davon, bemerkt Yetkin, und der AKP fehlt die für ihre relevanten Verfassungsänderungen benötigte Mehrheit. Es bleibt also nur noch eine Option: ein öffentliches Referendum über eine neue Verfassung. Yetkin glaubt, dass die öffentliche Meinung für die Todesstrafe eingestellt ist und daher auch für eine Verfassung, die deren Wiedereinführung beinhaltet.
"Die Hoffnung auf eine Konsenslösung schwindet", schreibt Yetkin in "Radikal". "Kann Erdoğan den Joker der Todesstrafe einsetzen, um ein starkes Präsidialsystem bei einem möglichen Referendum durchzudrücken? Warum nicht? Würde dies die Qualität der Demokratie in der Türkei, gemessen an den Koppenhagener Kriterien der EU mindern? Gewiss, aber das größte Problem in der heutigen Türkei ist das Thema PKK."
Es scheint, als hätten sich die Prioritäten der Türkei erheblich verschoben seitdem sich die Beziehungen zur EU merklich abgekühlt haben.
Fatma Kayabal
© Qantara.de 2012
Übersetzt aus dem Englischen von Laura Overmeyer
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de