Können Araber Demokratie?

Proteste gegen die miserable wirtschaftliche Lage in Tunis im Dezember 2020; Foto: Fethi Belaid/AFP/Getty Images
Proteste gegen die miserable wirtschaftliche Lage in Tunis im Dezember 2020; Foto: Fethi Belaid/AFP/Getty Images

"Das Volk ist noch nicht bereit für die Demokratie“: Dieser Slogan dient seit mehr als hundert Jahren dazu, autoritäre Regime zu rechtfertigen. Demokratie ist ein meist hart umkämpfter und langwieriger Prozess. Dieser kann nur gelingen, wenn wir das Wagnis eingehen, Demokratie zu praktizieren, schreibt Khaled Hroub in seinem Kommentar.

Essay von Khaled Hroub

Wo die provokative Frage auftaucht, ob Araber zur Demokratie fähig sind, ist der Orientalismus meist nicht weit. Doch wir können uns darauf verlassen, dass wir sie in regelmäßigen Abständen zu hören bekommen. Die wohl prominenteste Antwort auf diese Frage stammt von Khayr al-Din Pasha al-Tunisi (etwa 1822 – 1890), einem der Pioniere der osmanischen und islamischen Aufklärung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: "Der Herrscher ist unwillig - das Volk noch nicht bereit.“

Ursprünglich aus Kaukasien stammend, gelangte Khayr al-Din an den tunesischen Hof des Ahmed Bey, in dessen Gunst er schnell zum hohen Beamten aufstieg. Von dieser Position aus regte er innovative Reformen und Erneuerungen in der Verwaltung an, die dem damaligen Zeitgeist weit voraus waren. So stand er unter anderem maßgeblich hinter einer Veröffentlichung zur Neukonzeption der Staatsbürgerschaft von 1857. Ein Dokument, welches sich als für die arabische Welt zentral erweisen sollte: Es konstatierte die Gleichheit aller Tunesier vor dem Gesetz, unabhängig von Religion, Herkunft oder Ethnie.

Khayr al-Din war fest überzeugt von Bildung als zentralem Motor für gesellschaftlichen Aufschwung und zivilisatorische Blüte. Für wirtschaftliche und militärische Stärke, so Khayr al-Din, sei gute Bildung unabdingbar – und so setzte er sich für den Ausbau des Bildungswesens in Tunesien ein. Er glaubte an Freiheit als weiterer Voraussetzung für eine starke Nation: Nur freie Männer seien in der Lage, eine stabile Gesellschaft mit soliden Grundfesten zu errichten. In den 1870er Jahren übernahm Khayr al-Din den Posten des Premierministers in Tunesien, musste allerdings bald wieder zurücktreten  – die Umsetzung seiner wichtigsten Ideen war gescheitert. Danach gefragt, warum er seine liberale Agenda nicht durch freie Wahlen und eine demokratisch gewählte Regierung umgesetzt hätte, antwortete er: "Der Herrscher ist unwillig, das Volk noch nicht bereit!“

Seit Khayr al-Din’s zynisch anmutendem Kommentar sind nun anderthalb Jahrhunderte vergangen: "Das Volk ist noch nicht bereit“ – diese Antwort wird auch heute noch von Vielen bemüht. Wie würde ein Tunesien heute aussehen, in dem das Schicksal Khayr al-Din unterstützt und seine Pläne in Erfüllung hätte gehen lassen? Wo würde ein Tunesien heute stehen, in dem seine Impulse für Aufklärung und Demokratisierung Blüten getragen hätten? Wer weiß… . Fest steht, dass die Unwilligkeit der Herrschenden die demokratische Entwicklung heute wie damals sabotiert.

Wie soll eine Gesellschaft Demokratie lernen, ohne sie je zu praktizieren?



"Das Volk ist noch nicht bereit“: Dieser Slogan hat sich gleich einem Verfassungsgrundsatz tief in das Selbstverständnis arabischer Despotien eingeschrieben. Viele sind der trügerischen Logik dieser Aussage inzwischen auf die Schliche gekommen, denn sie führt in eine Sackgasse: Kein Wort darüber, wie das Volk auf eine demokratische Ordnung vorbereitet werden soll, ohne diese zu erproben und daran zu scheitern – ein, zwei, etliche Male, um schlussendlich daran zu wachsen und umso stärker aus dem Prozess hervorzugehen.

Wie soll Demokratie gelingen, wenn wir nicht das Wagnis eingehen, sie zu praktizieren? Wenn wir das Volk, die Eliten und die Gesellschaft in all ihren Facetten nicht immer wieder zu diesem Experiment einladen, um Fehler zu machen, diesen auf den Grund zu gehen und daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen? Um hinzufallen und wieder aufzustehen, in einem kontinuierlichen Prozess, in dem sich das Volk und seine gewählten Vertreterinnen und Vertreter auf Augenhöhe begegnen, um die gemeinsame demokratische Vision Schritt für Schritt in gemeinsamer Anstrengung zu etablieren.

Der Slogan "das Volk ist noch nicht bereit“, ist nichts anderes als ein Vorwand, hinter dem sich Diktatoren und Tyrannen, Despoten und ihre Verteidigerinnen und Verteidiger verstecken, um die Menschen weiter in dem Glauben zu wiegen, dass die Dinge, so wie sie sind, ihre Richtigkeit hätten.

Tunesiens erster demokratisch gewählter Präsident Beji Caid Essebsi mit Übergangspräsident Moncef Marzouki; Foto: Picture Alliance / Zumapress
Erste demokratische Machtübergabe nach dem Arabischen Frühling: Ende 2014 wurde in Tunesiens ersten freien Wahlen nach dem Sturz von Langzeitdiktator Ben Ali Beji Caid Essebsi (links) zum neuen Staatsoberhaupt des Landes gewählt. Sein politischer Gegner Moncef Marzouki, bis dahin Übergangspräsident, gestand seine Niederlage ein und beschrieb die Wahlen als eine "Feier der Demokratie in der arabischen Welt.“

Tatsächlich gibt es keine Zauberformel für den Weg einer Gesellschaft oder eines Staates von der Tyrannei in die Freiheit und Demokratie. Der Übergang zur Demokratie fordert stets seinen Tribut. Es ist ein meist hart umkämpfter, schmerzhafter und langwieriger Prozess, an dessen Ende ein Neuanfang voller Risiken wartet, die eine ganze Generation auf sich nehmen muss - und so den höchsten aller Preise für eine Zukunft in Freiheit zahlt. Gehen wir dieses Unterfangen allerdings nicht ein, so laufen wir Gefahr, vollends unter dem Satz "das Volk ist noch nicht bereit“, begraben zu werden und in einem ewigen Sumpf der Tyrannei ein bitteres Dasein zu fristen.

Der Behauptung, das Volk sei noch nicht bereit für Demokratie, haftet ein Hochmut, eine Grundhaltung der Bevormundung an, wie ihn unsere gesellschaftlichen und politischen Eliten beständig an den Tag legen. Ebenjene Eliten werden immer nervöser in diesen Tagen mit Blick auf ein Volk, das auf Antworten wartet: Wer soll diese Demokratie versuchen, wenn nicht wir? Wann ist das Volk bereit und wer lässt uns dies wissen? Wer bereitet das Volk auf den demokratischen Übergang vor? Etwa die autoritären Regime selbst, am eigenen Ast sägend, in einem heroischen Akt der Selbstaufopferung? Die Antworten darauf sind sie dem Volk bislang schuldig geblieben.

Doch wie erklären sich diejenigen, die an der Mär vom Volk, das noch nicht bereit ist, festhalten, dass die Demokratie in Ländern wie Indien funktioniert - und dies nicht erst seit gestern? In einem Land, in dem mehr als 1,5 Milliarden Menschen leben, in dem hunderte Sprachen, Religionen und ethnische Gruppen nebeneinander existieren? Kein Wort verlieren die Verfechter dieser These über die vielen Demokratien in afrikanischen Ländern, in denen Konflikte zwischen ethnischen Gruppen an der Tagesordnung sind.

Die Sorge angesichts der Gefahren, die der demokratische Wandel mit sich bringt, ist zweifelsohne berechtigt und die Szenarien vielfältig. Mitunter fürchtet man den Einzug von ethnischen und konfessionellen Gruppierungen in die Parlamente, wodurch die Konfliktlinien nicht verschwinden, sondern lediglich in die Parteipolitik verlagert würden. Dies wird ergänzt von der Gefahr eines erstarkenden Populismus und der Zunahme ausländischer Interventionen. Zudem könnten innenpolitische Machtkämpfe und Rivalitäten zu einer Destabilisierung beitragen und Wachstum und Entwicklung - sofern überhaupt vorhanden - behindern.

Wenn wir eines Tages in einer freien, stabilen Gesellschaft ankommen wollen, in einer Heimat, die wir als freie Menschen aufgebaut haben werden, so müssen wir uns zunächst in unbekannte Gewässer vorwagen und uns diesem Abenteuer mit all seinen Widrigkeiten stellen. Wann, wenn nicht jetzt - wer, wenn nicht wir?

Die Alternative zu diesem Prozess sind totalitäre Systeme, die versklavte Gesellschaften mit unterdrückten Individuen hervorbringen. Dieses Konzept hat ausgedient.



Khaled Hroub

© Qantara.de 2021 

Aus dem Arabischen übersetzt von Rowena Richter