Die Krise als Chance begreifen
Im Zuge der gewaltigen Hitzewelle, die den Irak vor einigen Wochen in Atem hielt, wuchs auch die Unzufriedenheit großer Bevölkerungsteile in den südlichen Großstädten Basra, Najaf und Kerbala. Die Welle des Unmuts breitete sich im vergangenen Juli dann rasch auch in den Außenbezirken der Hauptstadt Bagdad aus. Was war geschehen?
Wir erinnern uns: Am 12. Mai 2018 gingen die Iraker zu den Wahlurnen, um die Abgeordneten des Parlaments und anschließend einen neuen Ministerpräsident zu wählen. In gewisser Weise waren diese Wahlen in der Geschichte des Iraks seit der Invasion von 2003 gleich aus drei Gründen wohl einzigartig: Erstens waren es die ersten Parlamentswahlen seit dem Untergang des "Islamischen Staat" (IS) und ihres proklamierten Kalifats im Irak. Zweitens fand die Wahl ein Jahr nach dem Referendum über die Unabhängigkeit von Irakisch-Kurdistan statt. Und drittens standen sie im Zeichen aufkommender Spannungen zwischen den regionalen Mächten.
Machtverhältnisse auf den Kopf gestellt
Die Beteiligung an den Wahlen im Mai lag bei rund 45 Prozent und damit auf dem niedrigsten Stand seit 2003. In einigen Wahlkreisen wurden die Ergebnisse der Wahlen angefochten, weshalb Nachzählungen erforderlich waren. Dennoch waren viele Kommentatoren bereits nach Bekanntwerden der ersten Hochrechnungen vom Wahlergebnis überrascht. Denn dem populistischen schiitischen Kleriker Muqtada al-Sadr war es mit seiner Wahlliste "Al-Sairoon" tatsächlich gelungen, mehr Sitze zu erhalten als der amtierende Premierminister Haider al-Abadi und die mächtige Koalition der vom Iran unterstützten paramilitärischen Fraktionen der "Al-Fateh", die von Hadi al-Ameri angeführt wird.
Al-Sadr führt eine Volksbewegung an, die sich für eine konfessionsübergreifende nationale Regierung einsetzt und zu deren Partei auch nicht-religiöse Gruppen gehören, darunter die "Irakische Kommunistische Partei". Doch nach wochenlangem politischem Tauziehen, welche Partei die wichtigsten Ministerposten besetzt, strömten plötzlich zahllose Demonstranten im Süden des Irak auf die Straße, um gegen den anhaltenden politischen Stillstand zu protestieren.
Die Demonstrationen richteten sich gegen das Machtvakuum, aber vor allem gegen die schlechten Lebensbedingungen im Land – die nach wie vor hohe Arbeitslosigkeit, die unzuverlässige Stromversorgung sowie gegen die grassierende Korruption. Die Einwohner von Basra gingen schließlich auf die Barrikaden, weil sie der Misswirtschaft und mangelnden Grundversorgung vollends überdrüssig waren.
Für ein Ende der traditionellen Parteienherrschaft
Berichten zufolge forderten Ende Juli Tausende von Demonstranten in Bagdad und den südirakischen Städten die Abdankung der traditionellen Herrschaftseliten. Viele Iraker glauben, dass eine bestimmte politische Elite seit der Invasion des Irak eine zentrale Stellung im Staat eingenommen und ein System des politischen Patriarchats etabliert hat, das seit mehr als einem Jahrzehnt die Macht in den Händen einiger weniger vereint.
Mir gegenüber äußerte sich ein Bewohner Najafs, der namentlich nicht genannt werden wollte, dass die Regierungen seit nunmehr einem Jahrzehnt die finanziellen Sorgen der irakischen Bürger nicht ernst nähmen. Seit die irakische Regierung im Dezember 2017 den Sieg gegen IS erklärt hat, zeigen sich die Menschen noch frustrierter über die Willkür der Behörden und über einen Machtapparat, der es mit der ewigen Routine des Feilschens hält, anstatt sich um die wirtschaftlichen Belange der Iraker ernsthaft zu kümmern.
Interessanterweise begannen die jüngsten Demonstrationen in mehrheitlich von Schiiten bewohnten Städten. Die Zentralregierung in Bagdad wird seit dem Sturz Saddams hauptsächlich von schiitischen Parteien dominiert. Dass ausgerechnet die heiligen Städte der Schiiten im Irak, nämlich Najaf und Kerbala, Schauplatz solcher Massendemonstrationen sein sollten, ist wohl beispiellos.
Bislang hatten sich Unruhen im Irak vor allem auf die sunnitischen Gebiete im Zentral-Irak konzentriert. Im Jahr 2014 gelang es den IS-Dschihadisten, das Versagen der Zentralregierung zu nutzen, um marginalisierte sunnitische Gemeinschaften in lokalen Regierungsapparaten zu integrieren und ein sogenanntes Kalifat zu etablieren, das drei Jahre dauern sollte.
Auffallend bei den jüngsten Protesten ist ebenfalls das Fehlen jedweder sektiererischer Rhetorik unter den Demonstranten. In Sprechchören war lediglich das Fehlen von Dienstleistungen und Arbeitsplätzen sowie das Versagen der politischen Eliten ein Thema. Obwohl die Reaktionen der irakischen Übergangsregierung hierauf bislang recht verhalten ausfielen, halten die Demonstranten bis heute an ihren wirtschaftlichen Forderungen fest.
Schiiten, Sunniten und Kurden vereint in ihren Forderungen
Ein weiterer wichtiger Aspekt, der erwähnt werden sollte, ist die Tatsache, dass Großayatollah Ali al-Sistani, der von Millionen von Schiiten im Irak verehrt wird, die jüngsten Proteste unterstützte. Ein Vertreter von Al-Sistani erklärte, dass "die amtierende Regierung dringend daran arbeiten muss, die Forderungen der Bürger endlich umzusetzen, um ihr Leid und Elend zu lindern".
Immerhin hat die Zentralregierung inzwischen zumindest personell eingelenkt: Inmitten der wochenlangen Massenproteste wurde der irakische Stromminister Qassem al-Fahdawi Ende Juli entlassen. In der Folge begann Premierminister Al-Abadi, Treffen mit Delegationen lokaler Stammesführer und prominenter Persönlichkeiten durchzuführen und versprach eine Reihe von schnellen Maßnahmen, um den ökonomischen Forderungen der Bevölkerung zu entsprechen. Ende Juli ordnete Al-Abadi auch eine Entschädigung für Geflügelhalter an, die unter der Vogelgrippe-Epidemie zu Beginn dieses Jahres zu leiden hatten.
Am 23. Juli gaben die sunnitischen arabischen Stämme von Hawija symbolisch eine Presseerklärung heraus, die die Proteste in den südlichen Provinzen unterstützt. In gewisser Weise spiegelten diese Demonstrationen jene wider, die im Dezember 2017 in den Großstädten der Region Kurdistan stattfanden. Kurdische Demonstranten in Sulaymaniyah und Halabja gingen wegen mangelnder Grundversorgung und verspätet ausgezahlter Gehälter auf die Straße. Ein Bewohner von Sulaymaniyah sagte mir, dass viele Menschen in Kurdistan Sympathie für ihre Landsleute in Najaf und Basra haben, da sie alle unter dem gleichen Mangel an grundlegenden Dienstleistungen und der Korruption leiden.
Klar ist jedoch auch, dass die jüngsten Proteste im Irak noch keine Revolution bedeuten. Sie reflektieren vielmehr eine neue Phase der politischen Reife der irakischen Öffentlichkeit. Die jüngsten Demonstrationen haben zudem eine neue nicht-sektiererische Dimension in die gesellschaftspolitische Arena des Zweistromlandes transportiert. Klar ist auch, dass der künftige Irak nicht ohne Rechenschaftspflicht oder reine Straffreiheit regiert werden.
Die Zeichen eines allmählichen gesellschaftlichen Wandels lassen sich erahnen. Die Zeit ist reif, sich an ein nicht-sektiererisches technokratisches Kabinett zu wenden, das sich auf das Wohl der irakischen Bürger und die Bekämpfung der Korruption konzentriert. Dies wirft jedoch die Frage auf, wie die künftige Regierung den Anliegen der Bevölkerung durch konkrete Schritte entsprechen kann. Das irakische Volk hat ja bereits seit geraumer Zeit seine Frustration über die Unfähigkeit der politischen Eliten, die wirtschaftlichen Probleme des Landes anzugehen, deutlich zum Ausdruck gebracht.
In gewissem Sinne lassen die zahlreichen wirtschaftlichen Sorgen und täglichen Überlebenskämpfe im heutigen Irak die sektiererischen Verwerfungen und Stammesrivalitäten in den Schatten treten. Und genau darin besteht eine große Chance für die politischen Entscheidungsträger im Irak, nämlich das Land zu einer nicht-sektiererischen und nicht-tribalen Regierungsführung zu führen, bei der die Erneuerung des Landes im Mittelpunkt steht.
Seyed Ali Alavi
© Open Democracy 2018
Der irakische Autor Seyed Ali Alavi ist Lehrbeauftragter am Fachbereich Politik und Internationale Beziehungen der SOAS, University of London. Der wissenschaftliche Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf den internationalen Beziehungen des Nahen Ostens.