Ungläubiges Staunen
In fernen Ländern Unerwartetes enthüllen, in von böswilligen Mächten sorgsam abgeschirmte verborgene Welten vordringen: das ist der Stoff, aus dem Entdeckerglück geschmiedet und Reporterträume gemacht sind.
In kein Land brechen in jüngster Zeit so viele deutsche und europäische "Conquistadoren des Unbekannten" auf wie in den Iran. Auf Wanderungen über den “bösen Felsweg” mühen sie sich dort nicht ab. Auf "des Maultiers hohem Rücken" sind die Entdecker nicht unterwegs. Vielmehr tun sie sich hervor als Abenteurer des Gesellschaftlichen. Auf dem Wege des "Couchsurfing" stoßen sie vor zu feucht-fröhlichen Partys, in deren Verlauf junge, nur mit Bikinis bekleidete Frauen in Pools hüpfen.
Im Meer der eintönigen Appartmentblocks von Teheran entdecken sie "Inseln des Hedonismus". Auf Erkundungstouren durch Shopping-Malls bringen sie "topmodische" und "durchgestylte" Schönheiten ans Licht, die viel "Make-Up und Glitzer" tragen. Das Kopftuch ist stets lässig in den Nacken geschoben. Staunend wird die unbändige "Sehnsucht nach Freiheit" der iranischen Jugend festgestellt, in populären Reportagebüchern wie "Couchsurfing im Iran" oder in Artikeln von "Süddeutscher Zeitung" bis zur "Bild". Der Reporter der "Welt am Sonntag" findet, dass "das Morgenland viel abendländischer aussieht als gedacht."
Gefangen in Klischees
Dass dem Drang nach dem "ungezwungenen westlichen Lebensstil" finstere "Sitten- und Religionswächter" im Wege stehen, die jeder Zeit "zuschlagen" können, sich das lustige Treiben also unter dem Damoklesschwert jahrelanger Kerkerstrafen entfaltet, steigert den Reiz der Recherche und den Aufmerksamkeitswert des publizistischen Produkts.
Wenn "Liebespaare ins Visier der Moralpolizei geraten", ist die Fallhöhe schwindelerregend hoch. Zumal sich nicht nur die "weltoffenen" Protagonisten Gefahren aussetzen, sondern auch die Reporter selbst. Da muss heimlich fotografiert und gedreht, da muss sich unter falschen Vorwänden Zugang verschafft, da müssen Datenträger trickreich außer Landes geschmuggelt werden. Man könnte ja auch selbst im Gefängnis landen.
Die jüngste Welle der Begeisterung über das verborgene hippe Persien wurde in diesem Herbst von der Dokumentation "Raving Iran" ausgelöst. "Elektronische Musik ist in diesem Land verboten", klären uns die Rezensenten auf. "Ein Film gegen das dunkle, unscharfe Bild vom Osten", findet ein euphorischer Kritiker (auch Qantara.de berichtete über den Film).
Die deutsche Regisseurin Susanne Meures war zur Recherche in den Iran gereist, um ihr Abschlusswerk für die Züricher Kunsthochschule zu produzieren. Ihre Helden sind zwei junge Männer, die elektronische Musik auflegen. Die Filmemacherin beobachtet Anush und Arash, wie sie Undergroundpartys veranstalten und wie sie sich mit den Spaßverderbern von der Zensurbehörde herumschlagen. Am Ende landen Anush und Arash, "wie in der Dramaturgie eines klassischen Dramas mit existenzieller Fallhöhe" (Süddeutsche), als Asylbewerber in der Schweiz.
Staunen über das stets Gleiche
Dort blicken die beiden Iraner dann irgendwann in das Gesicht einer Frau mit kurzen blonden Haaren. "Ich war noch nie im Iran. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass man ins Gefängnis gesperrt wird, nur weil man Musik macht", sagt sie voller Empathie zu den beiden exotischen DJs. In dieser Szene tritt das Zielpublikum in Gestalt der Schweizerin kurz vor die Kamera. Sie verkörpert das ungläubige Staunen, das Werk und Rezeption gleichermaßen antreibt.
Wir staunen anscheinend gern darüber, dass in der obskuren Theokratie Jugendliche nach "einem ganz normalen Leben" streben. Wie schön ist da obendrein die Vergewisserung, dass den iranischen Jugendlichen "unser westlicher Lebensstil" als leuchtendes Vorbild und "Zielpunkt der Sehnsüchte" dient. Wir reden uns ein, dass die jungen Leute mit der "Macht der subtilen Provokation" (Focus) das "Endstadium der Diktatur" (Welt am Sonntag) herbeiführen werden. Dabei schrecken wir nicht davor zurück, House-Musik in den Rang einer "Ode an die Freiheit" (Berliner Zeitung) und den Rave in der Wüste auf die Stufe einer "archaischen Anbetung" (Frankfurter Allgemeine) zu erheben.
Muss man die Schreiber solcher Worte entschuldigen, weil sie vielleicht bekifft waren? Erstaunlicher als alles andere ist die Tatsache, dass westliche Autoren, Reporter und offenbar auch Medienkonsumenten es schaffen, sich zum 1001 Mal für das stets Gleiche zu begeistern. Die "lax sitzenden Kopftücher", "die immer enger werdenden Mäntel" und die "unislamischen Vergnügungen der iranischen Jugendlichen" sind längst Klischees, so beliebt wie einst die iranischen Frauen im Tschador und davor der kluge weise Schah von Persien.
Nicht ohne mein Klischee
Iranreisenden wie der Regisseurin Susanne Meures soll der Mut nicht abgestritten werden. Bei ihrer Arbeit im Iran bringen sie sich in Gefahr, keine Frage. Allerdings wird die andere Seite gern übersehen: inhaltlich und publizistisch erfordern Werke wie "Raving Iran" überhaupt keinen Mut. Im Gegenteil. Sie bewegen sich auf den ausgetretenen Trampelpfaden des ungläubigen Staunens und der wohltuenden Selbstvergewisserung. Als stünde über den Veröffentlichungen die Devise: "Nicht ohne mein Klischee".
Man stelle sich einen Reporter des "Neuen Deutschland" in der ehemaligen DDR vor. In einer Reportage über Obdachlosigkeit in den Vereinigten Staaten konnte er durchaus Zutreffendes beschreiben. Aber erforderte es publizistischen Mut? Wohl kaum, denn er bediente die herrschenden Vorstellungen von der Grausamkeit des Kapitalismus.
Dass die Ironie des "Schleier lüftenden Liebchens" aus Goethes west-östlichem Diwan ihren kühlenden Schatten bis auf die Gegenwartsberichterstattung über den Orient, speziell über Persien, werfe, wäre wohl zu viel verlangt. Aber etwas mehr Sinn für Erkenntnisfortschritt und ein etwas schärferes Bewusstsein für die Gefahr, sich wiederholend im Kreis zu drehen, darf man wohl erwarten.
Sex and Drugs in der Islamischen Republik
Bereits 2003 hat Navid Kermani in seinem Reportageband "Schöner neuer Orient" aus dem Iran den hier berührten Themenkreis der Jugendkultur abgeschritten. In dem Kapitel "Sex and Drugs in der Islamischen Republik" demontiert er das "puritanische Bild", das man sich im Westen vom "iranischen Gottesstaat" machte. "Teheran birgt eine ausgedehnte Subkultur aus Dancefloor und Ecstasy, aus Alternativrock, Rap und Techno", schreibt er. Die Gesellschaft habe sich "säkularisiert und modernisiert".
Aber: dieser Befund sei eben "so ambivalent wie die Moderne selbst". Kermani berichtet von einem Verfall der sozialen Sitten, von Prostitution und verbreitetem Drogenkonsum. "Es dürfte kein Land auf der Welt geben, in dem sich das politische System so weit von der gesellschaftlichen Entwicklung abgekoppelt hat", lautet seine Diagnose – vor 13 Jahren. Er hütete sich allerdings davor, dass nonkonforme Verhalten von Jugendlichen und Erwachsenen als Form des politischen Protests zu deuten.
Gemessen an Kermani kam der Autor dieser Zeilen schon recht spät, als er sich Anfang 2006 in mehreren Fernsehreportagen der Jugendkultur im Iran widmete. Da konnte man sehen, wie die jungen Leute das Ashura-Fest zum Gedenken an den schiitischen Imam Husein auf den nächtlichen Straßen Teherans zur "Husein-Party" umfunktionierten, wie langhaarige Heavy-Metal-Rocker in einer Aula der Teheraner Universität unter den Bildnissen von Khomeini und Khamenei auf die Saiten ihrer E-Gitarren droschen (und das Publikum sich dabei mit Ecstasy-Pillen aufputschte) und wie man beim Skifahren im Elborz-Gebirge allem entkam.
"Die milderen Despotien sind die dauerhafteren"
Richtig, seitdem ist wieder eine Generation iranischer Kinder zu jungen Erwachsenen geworden, die ähnliche Erfahrungen machen. Aber warum soll man wieder dieselben Geschichten erzählen? Wo ist der Erkenntnisgewinn? Leidet unsere Medienkultur an einem neurotischen Tick? Die Wiederholung des immer gleichen Erzählmusters wirkt schon deshalb peinlich, weil die politische und soziale Kultur des Westens selbst in einer tiefen Krise steckt und sich derzeit kaum als Sehnsuchtsort eignet. Zudem haben wir die Grenzen der Subversionskraft der jungen Generation im Iran 2009 kennen gelernt. Damals scheiterte die "Grüne Welle".
Spätestens seitdem ist klar: Die "Islamische Republik" muss keineswegs zwangsläufig durch eine liberale Demokratie ersetzt werden (deren Wegbereiter die freiheitsliebende Jugend gewesen wäre). Die Revolutionswächter können das Land auch in eine Militärdiktatur verwandeln. Iran kann auch in Chaos und Bürgerkrieg versinken, vor allem, wenn die wachsenden Umwelt- und Demographieprobleme sich nicht mehr beherrschen lassen. Es kann auch sein, dass die Herrschaft der Kleriker noch lange weitergeht. Jedenfalls scheinen die Machthaber lernfähiger und flexibler zu sein als wir glauben.
Vielleicht haben sie Raves und Rockkonzerte längst als Teil der Wirklichkeit akzeptiert und sehen sogar die Vorteile. “Die milderen Despotien sind die dauerhafteren", schrieb Peter Sloterdijk in einer theoretischen Überlegung über "Streß und Freiheit". Die milden Despotien böten "den Untertanen hinreichend angenehme Kompensationen für das Dasein im Joch der Unterordnung an."
Das wäre mal ein Aspekt, unter dem rasende Reporter aus Deutschland die sympathisch individualistische Jugendkultur im Iran ganz neu entdecken könnten.
Stefan Buchen
© Qantara.de 2016
Der Autor arbeitet als Fernsehjournalist für das ARD-Politikmagazin “Panorama”.