Palästina im Visier der Nationalsozialisten
Palästina war nicht nur im Ersten, sondern auch im Zweiten Weltkrieg Kampfgebiet der deutschen Luftstreitkräfte. Dass deutsche Piloten der bayerischen Fliegerabteilung 304 das Land 1917/18 umfassend aus der Luft fotografisch dokumentierten, ist hinlänglich bekannt. Recht wenig wusste man bislang über die Unternehmungen der militärischen deutschen Luftbildaufklärung über Palästina ein Vierteljahrhundert später. Und dies obgleich die wenigen Angriffe der deutschen Luftwaffe im Juni und Juli 1941auf das Mandatspalästina, die sich vor allem auf die Hafenstadt Haifa konzentrierten, damals von der NS-Kriegspropaganda zu den erfolgreichsten Schlägen gegen die britische Präsenz im östlichen Mittelmeerraum stilisiert wurden: Haifa galt wegen der vom irakischen Mossul dorthin führenden Ölpipeline als die "Großtankstelle“ der Briten in der Region.
Dass die deutsche Luftwaffe schon vor Juni 1941 und, wie sich nun herausgestellt hat, noch bis September 1944 zahlreiche Einsätze über Palästina flog, belegen die israelischen Historiker Benjamin Z. Kedar und Daniel Uziel. In ihrem Aufsatz in der hebräischsprachigen israelischen Geschichtszeitschrift "Cathedra“ haben sie nicht weniger als 286 bislang unbekannte Luftaufnahmen der Luftwaffe aus der Zeit ausgewertet, die Kedar im US-Nationalarchiv in College Park, Maryland, ausfindig gemacht hat. Die deutschen Luftbilder samt Auswertung haben die Autoren mit Aufzeichnungen der britischen Luftabwehr in Palästina abgeglichen, um ein möglichst realistisches Bild vom Verlauf der damaligen deutschen Flugeinsätze zu erhalten ("Hitlers Piloten fotografieren Eretz Israel“, in Cathedra, Nr. 177, Januar 2021, Yad Yizthak Ben-Zvi Institute, Jerusalem, in hebräischer Sprache).
In Reichweite der deutschen Luftwaffe
Für die deutsche Luftwaffe wurde Palästina erst nach dem Balkan- und Griechenland-Feldzug der Wehrmacht im April 1941 erreichbar. Das bis dahin in Sizilien stationierte X. Fliegerkorps unter General Heinz Eisler wurde jetzt nach Griechenland verlegt. Neben dem italienisch besetzten Rhodos konnte nun auch Kreta, das die Deutschen Ende Mai einnahmen, als Stützpunkt benutzt werden. Erste deutsche Fernaufklärungsflugzeuge erreichten bereits im Monat darauf Haifa. Der Hintergrund für diese ersten Erkundungen war wohl das Bestreben auf deutscher Seite, mit eventuellen Angriffen auf britische Ziele in Palästina die mit dem Dritten Reich verbündeten Kräfte des Vichy-Regimes im Libanon und in Syrien zu unterstützen.
Der Ernstfall trat schon bald ein, als die Briten gemeinsam mit Freien Französischen Truppen am 8. Juni 1941 den Syrien-Libanon Feldzug ("Operation Exporter“) starteten und der dortige französische Hochkommissar Henri Fernand Dentz um Unterstützung durch die deutsche Luftwaffe bat. Diese entsendete bereits in der Nacht zum 10. Juni rund fünfzig Bomber in Richtung Haifa, deren Piloten über die wichtigsten Ziele in der Stadt im Bilde gewesen sein dürften. Denn für die am 28. Mai gemachten drei Luftbilder – die ersten dokumentierten deutschen Luftaufnahmen vom damaligen Palästina – waren zumindest zwei Auswerteblätter erstellt und mit den Überschriften "Hafen“ und "Fliegerhorst“ versehen worden. Markiert waren auf den Fotografien im städtischen Hafen- und Industriegebiet neben der britischen Flugbasis mit Flughalle und Seeflugzeugen auch die Objekte "Handels(Kriegs)-Hafen“, "Kühlwasserbecken“ sowie mehrere "Betriebsstoff“- und "Rohöllager“ und auch Haifas Bahnhof und das Elektrizitätswerk.
Störfeuer für die "Operation Exporter“
Vor allem Letzteres trafen die meisten Fliegerbomben bei diesem ersten deutschen Luftangriff, der auf schwere britische Luftabwehr stieß. Dennoch wurde es nur leicht beschädigt, und auch die Bomben, die über den Ölanlagen des Hafens und einem Wohnviertel auf dem Carmel-Berg abgeworfen wurden, verursachten kaum Schäden, weil etliche von ihnen nicht detonierten. Auch zwei spätere deutsche Bombenflüge, die im Zusammenhang mit der bis zum 14. Juli 1941 dauernden "Operation Exporter“ der Briten stattfanden, hatten Haifa zum Ziel, das aber nur in einem Fall und ohne nennenswerte Folgen getroffen wurde. Beim zweiten Einsatz ließen die deutschen Piloten ihre Ladungen – weil sie entweder in Not geraten waren oder sich verflogen hatten – über der Stadt Tel Aviv fallen, wo ein Treffer zehn Menschen in einem Wohnhaus tötete.
Während der britischen "Operation Exporter“ flog die deutsche Aufklärungsgruppe 1.(F)/121 insgesamt zehn Einsätze. Die meisten galten Haifa und in zwei Fällen auch den benachbarten Küstenorte Akko und Atlit. Am 24. Juni flog eine deutsche Ju (Junkers) 88D in zwölfttausend Fuß Höhe eine ungewöhnlich lange Route. Sie führte zunächst von Jaffa nach Jericho, dann über die britischen Flughäfen in Amman und Al-Zarqa bis nach Tiberias, wo sich ein britischer Seeflugzeughafen befand, und anschließend nach Haifa. Allein von diesem Einsatz – mit 1 Stunde 24 Minuten Flugzeit der längste der deutschen Aufklärungsflüge über dem Gebiet während des Zweiten Weltkriegs – liegen nicht weniger als 56 Luftaufnahmen in bester Qualität vor. Den Notizen der deutschen Auswerter ist zu entnehmen, dass man neben den Seeflugzeugen der Briten vor allem deren in Haifa liegende Kriegsschiffe im Visier hatte – tatsächlich wurden solche von der Luftwaffe während der "Operation Exporter“ wiederholt attackiert.
NS-Kriegspropaganda feiert den Luftangriff auf Haifa
Die NS-Kriegspropaganda feierte den ersten Angriff der deutschen Luftwaffe auf Haifa als eine weitere Etappe in einer scheinbar endlosen Reihe militärischer Erfolge der Deutschen auch jenseits von Europa und Nordafrika. Der Bombenangriff wurde, nachdem deutsche Flieger kurz zuvor schon Alexandria massiv unter Beschuss genommen hatten, zu einem kriegswichtigen Vorstoß in die britische Herrschaftssphäre am östlichen Mittelmeer stilisiert.
Dort liege nun, wie es hieß, als direkte Folge des "Kreta-Siegs“ kein Stützpunkt der Briten mehr außerhalb der "Gefahrenzone der deutschen Luftwaffe“. Und zum Bombardement von Haifa war in der NS-Presse in Bezug auf die Schäden übertrieben von "Explosionen in Tanklagern und Hafenanlagen“ die Rede.
Bald fanden sich nicht nur von den Fernaufklärern gemachte Luftbilder in deutschen Blättern, sondern auch Berichte von Kriegsreportern, die an den Aufklärungsflügen teilnahmen. Der Historiker Daniel Uziel fand im Deutschen Bundesarchiv neben einem solchen mit "Nachtflug über Haifa“ überschriebenen Beitrag, der am 19. Juli 1941 im Organ des X. Fliegerkorps "Adler von Hellas“ erschien, auch einen besonders dramatischen Augenzeugenbericht des bekannten NS-Kriegsberichterstatters Heinz Liebscher. Er war bei einem Aufklärungsflug über Haifa am 9. Juli 1941 dabei gewesen, bei dem er in der Bodenwanne einer Ju 88D saß und im Ernstfall als Frontschütze ein Maschinengewehr bedienen sollte. In seiner – vermutlich unveröffentlicht gebliebenen – Reportage ließ Liebscher bei der Beschreibung der Schäden, die vorangegangene Luftangriffe auf Haifas Ölanlagen angeblich verursacht hatten, seiner Fantasie freien Lauf und konstatierte dann begeistert: "Unsere Bomber haben tadellose Arbeit geleistet!“
"Eingebettete Medien“ füttern die Propagandamaschinerie
Es folgte die Beschreibung eines heldenhaften Luftkampfs, bei dem Liebschers Maschine, nachdem sie bereits von der britischen Flak beschossen worden war, von einer Gruppe britischer Hurricane-Jäger attackiert wurde. Nach eigenem Bekunden griff Liebscher selbst zum Maschinengewehr: "Gleichzeitig mit dem Jäger schieße auch ich, so ruhig wie möglich. Eine ganze Trommel kann ich der Hurricane vor die Nase setzen. Dann ist der Spuk vorbei!“ Und noch ein weiterer Luftkampf musste nach dieser Version überstanden werden, doch findet sich von diesem angeblich so dramatischen Geschehen in den Aufzeichnungen der britischen Luftabwehr von diesem Tag nichts – da wurde lediglich vermerkt, dass einige Jäger starteten. Ohnehin hätten die britischen Kampfflieger nach dem damaligen Stand der Flugtechnik die Höhe, in der die deutschen Aufklärungsmaschinen flogen, nicht erreichen können.
Es lag am im Sommer 1941 begonnenen Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion, dass deutsche Aufklärungsflüge über Palästina erst einmal seltener wurden. Neben Haifa schienen jetzt britische Stellungen in und um Gaza und Aqaba am Roten Meer die Luftwaffe zu interessieren. Vermutlich stand das Interesse im Zusammenhang mit Plänen zur Ausdehnung des Afrika-Feldzugs in Richtung Ägypten. Während des Vormarsches des Afrikakorps unter Rommel auf das Land am Nil nahm jedenfalls die Häufigkeit der deutschen Fernaufklärungsflüge über Palästina erheblich zu. Für den Zeitraum zwischen Ende Juni 1942 und der deutschen Niederlage in El Alamein am 9. November 1942 sind vierzehn solcher Aufklärungseinsätze dokumentiert.
Historisch bedeutende Luftaufnahmen
Außer auf Haifas strategische Anlagen, die mehrmals im Rahmen einer Unterstützungsaktion für einen geplanten italienischen U-Boot-Angriff aus der Luft aufgenommen wurden, richtete sich jetzt der Blick der deutschen Aufklärer nicht nur auf die britischen Flugbasen im Süden und Norden Palästinas. Fotografiert wurde am 9. Oktober 1942 auch die massive britische Verteidigungslinie nördlich der Küstenstadt Nahariya an der Grenze zu Libanon. Es ist die einzige bekannte Luftaufnahme von diesem Schutzwall, dessen tiefe Panzergräben ursprünglich wohl auch dazu dienen sollten, einen möglichen deutschen Vorstoß aus der Kaukasus-Region abzuwehren.
Dem neuen Luftbilder-Fund zufolge flog die deutsche Luftwaffe, die seit dem gescheiterten britischen Vorstoß im Dodekanes-Feldzug vom Herbst 1943 auch von der südöstlichen Ägäis aus operieren konnte, von Dezember 1942 bis September 1944 insgesamt zwölf Einsätze über Palästina. Im April 1943 wurde der einzige Aufklärungsflieger (Ju 88D-1), den die Deutschen über dem Gebiet während des Kriegs verloren, über Akko abgeschossen. Neben den üblichen fotografierten Zielen stechen die bei diesen Einsätzen gemachten Aufnahmen von Tel Aviv und Umgebung ins Auge. Ob dies allerdings mit dem mehrmals gemachten Vorschlag des damals in Berlin weilenden palästinensischen Muftis Amin al-Husseini, Städte in Palästina zu bombardieren, oder mit ähnlichen Überlegungen des Luftwaffenkommandos zusammenhing, konnten die israelischen Historiker nicht eindeutig klären.
Die entdeckten 286 Luftaufnahmen zeigen jedenfalls, dass das britisch kontrollierte Palästina die deutsche Militäraufklärung in weit größerem Ausmaß interessierte als bislang bekannt. Gleichzeitig liefern sie auch eine für diesen Zeitraum sonst nicht vorhandene Bilddokumentation – nicht nur vieler Orte in Palästina, sondern auch der dortigen Militäranlagen der Briten, die erst Ende 1944 begannen, das Land systematisch aus der Luft zu fotografieren.
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