Der Mann mit dem Hidschab
Der Schleier (arab. Hidschab) ist ein kompliziertes Kleidungsstück. Seitdem er vor Tausenden Jahren erstmals getragen wurde, wurden ihm immer wieder neue Bedeutungen zugewiesen. Er war ein Symbol männlicher Dominanz. Ihn zu tragen, galt als Akt von Frömmigkeit, als Manifestation der Unterdrückung von Frauen, als Minderung weiblicher Verführungskraft. Doch er galt auch als Symbol des kulturellen Stolzes wie des Widerstandes gegen kolonialen Imperialismus und Globalisierung.
Der Hidschab diente ferner als Ausweis für eine achtbare Frau, als ein Werkzeug, den weiblichen Wettbewerb in Kleiderfragen zu vermeiden, als Kennzeichen der Andersheit und als Mittel zur Abwehr männlicher Zudringlichkeit. Es gibt zahllose Bedeutungen eines einzigen Kleidungsstücks – konstruiert in unterschiedlichen Epochen aus unterschiedlichen sozialen und politischen Gründen von unterschiedlichen Akteuren aus unterschiedlichen Motiven.
Wenn überhaupt, so sollte man also nicht über den Hidschab sprechen, sondern über die Hidschabs, die nur gemeinsam haben, dass sie alle aus Stoff gefertigt sind, ansonsten aber solch unterschiedliche Bedeutungen tragen, dass es praktisch unmöglich ist, sie unter einem einzigen Begriff zu subsumieren. Für jede meiner nachfolgenden Generalisierungen gibt es daher mehrere Ausnahmen.
Dennoch gibt es etwas, das sich über alle diese Formen des Hidschabs sagen lässt: Er ist für Frauen und nur für sie allein. Männer tragen keine Hidschabs. Sie mögen ihren Kopf bedecken, gar ihre Gesichter, aber das ist etwas anderes. Der Hidschab ist nicht irgendein Kleidungsstück, das den Kopf bedeckt oder das Haar auch das Gesicht. Der Hidschab erfüllt eine gänzlich andere Funktion.
Schleier und Macht
Vor etwa einer Woche diskutierte ich im Freundes- und Bekanntenkreis über das Thema sexuelle Belästigung von Frauen. Mein Argument dabei war, dass die Belästigung – wie auch viele andere sexuelle Verbrechen – als pathologischer Ausdruck von Macht zu sehen ist.
Deshalb kann der Hidschab nicht dazu dienen, Frauen vor der gewaltsamen Ausprägung männlicher Sexualität zu schützen. Eher schon diente er von Beginn an dazu, der männlichen Macht über Frauen Ausdruck zu verleihen.
Mein Fazit per Twitter: "In einer Welt, in der ausschließlich Frauen herrschen, müssten Männer einen Schleier tragen." Um dies zu unterstreichen, legte ich mir den Ganzkörperumhang (Abaja) meiner Tochter an, fotografierte mich selbst und postete das Foto als Profilbild bei Twitter und Facebook. Damit wollte ich zum Ausdruck bringen, dass der Hidschab ursprünglich ein Symbol männlicher Machtausübung war und dass, hätten Frauen geherrscht, die Dinge wohl anders liegen würden.
Die Kommentare, die ich daraufhin erhielt, waren höchst aufschlussreich. Einige Frauen und Männer verstanden meinen Selbstversuch als Solidaritätsaktion für Frauen im Allgemeinen. Manche dachten, ich würde damit allgemein Stellung gegen den Hidschab beziehen. Einige flirteten sogar mit mir. Doch es gab auch wütende Kommentare. Es war, als hätte ich nackt auf dem Times Square posiert.
Ich glaube die Provokation bestand für einige Personen darin, dass ich für einen Moment die Geschlechtsunterschiede zwischen Männern und Frauen verwischt hatte. Das mag sie daran erinnert haben, welche Dominanz die einen über die anderen ausüben, was für beide Geschlechter etwas Beunruhigendes hat. Vielleicht ist dies der Grund dafür, weshalb es in einigen religiösen Traditionen als Sünde gilt, wenn Männer sich als Frauen verkleiden oder Frauen als Männer. Folglich bestünde also die Sünde darin, diese Geschlechterunterschiede zu verwischen.
Eine kurze Geschichte des Hidschab
Der Hidschab als kulturelle Praxis hat eine sehr lange Geschichte. Bereits die Assyrer, die Babylonier, die Perser, Griechen und die Römer kannten bestimmte Formen der Verschleierung. Dies galt ebenso für die Juden und Christen. Wenn daher heute einige Personen dazu tendieren, das Kopftuch nur noch mit dem Islam zu assoziieren, muss entgegengehalten werden, dass es um eine Praxis geht, die die Muslime von anderen Kulturen übernommen haben.
Zu Beginn ging es im Zusammenhang mit dem Hidschab vor allem um die soziale Klasse. Frauen aus der Oberschicht trugen das Kopftuch, um sich von Frauen aus niederen Klassen abzuheben. Damit gehörte die Hidschab-Trägerin zur "Upper-Class" und die Bedeckung war in gewisser Weise ihre Visitenkarte. Sie diente gleichzeitig auch ihrem Schutz. Männer überlegten es sich zweimal, bevor sie eine Frau belästigten, die einer höheren Klasse angehörte.
Um dieses Privileg zu schützen, war es Frauen aus sozial schwächeren Schichten verboten, einen Hidschab zu tragen. Taten sie es dennoch, so wurden sie bestraft. In einigen Kulturen bedeutete das Tragen eines Kopftuches, dass die Frau zu einem Ehemann gehörte. In anderen wiederum galt es als Ausdruck der männlichen Autorität über die Frau. Und schließlich gab es jene, die Eva dafür verantwortlich machten, dass die Männer aus dem Paradies vertrieben wurden, weshalb sie verlangten, dass Frauen sich selbst ihrer Verführungskraft berauben sollten.
Als später die Muslime auf der Weltbühne auftraten, stand ihnen bereits ein gewaltiger Fundus verschiedener Bedeutungsmuster für den Hidschab zur Verfügung, aus dem sie schöpfen konnten. In der Frühzeit des Islam trugen muslimische Frauen den Hidschab, um damit zu demonstrieren, dass sie zu der Klasse der neuen Gläubigen gehörten, was ihrem Schutz diente. Auch trugen sie das Kopftuch, um damit ihre Schönheit für ihren Mann, dem sie und ihre Verführungskraft gehörten, zu erhalten.
Es lässt sich jedoch festhalten, dass das Tragen des Hidschabs damals weder eine universelle Praxis war, noch wurde mit dem Schleier der Versuch unternommen, den weiblichen Verführungszauber generell aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. Weibliche Sklaven – von denen es viele gab – waren zum Beispiel nicht gezwungen, ein Kopftuch zu tragen, sondern durften sich auf der Straße sogar mit entblößter Brust zeigen. Der Hidschab war noch immer eine Frage der sozialen Schicht, wie es auch in den vorangegangenen kulturellen und religiösen Gemeinschaften der Fall gewesen war.
Dieses historische Bild und Verständnis des Hidschab überdauerte bis ins späte 19. und bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als einige Kolonialherren entschieden, dass es ihre Pflicht war, die Frauen in ihren jeweiligen Kolonien zu befreien. Einer von ihnen war der Brite Lord Cromer, der den Hidschab als Inbegriff der Unterdrückung der Frauen in Ägypten ansah.
Interessanterweise engagierte sich dieser Lord in England, in der "The Women's National Anti-Suffrage League", die es sich auf die Fahnen geschrieben hatte, den Frauen keinesfalls das volle Wahlrecht zuzuerkennen. Es war Cromer, der Ägypten als Generalkonsul zwischen 1878 und 1907 praktisch allein regierte, was dazu führte, dass die von ihm vertretenen Ansichten und Positionen zum Hidschab den westlichen, aber auch den arabisch-muslimischen Kopftuch-Diskurs wesentlich mitprägten.
Zwischen den Mühlsteinen des Kolonialismus
Auf ihn geht auch die Ansicht zurück, dass der Hidschab ein Symbol sozialer Unterdrückung und Rückwärtsgewandtheit sei. Im Gegenzug erklärten die Ägypter – und später auch andere Muslime – den Hidschab zum Symbol ihrer Identität und zum Zeichen des Widerstandes. Das Kopftuch wurde Teil der kulturellen Identität von Gemeinschaften, deren Selbstverständnis zwischen den Mühlsteinen des Kolonialismus zerrieben worden war. Zugleich wurde es zum Mittel, seine Ablehnung gegenüber den Kolonialherren zu demonstrieren.
Ähnliche Zuschreibungen erfuhr der Hidschab, als auch muslimische Eliten und Herrscher die Position übernahmen, dass er ein Zeichen von Rückständigkeit sei und es deshalb in ihren Ländern bekämpft wurde. In diese Zeit fiel es auch, dass das Kopftuch nicht nur in Bezug auf Identität und Widerstand mit neuen Bedeutungen belegt wurde, sondern es auch seine Gebundenheit an bestimmte soziale Klassen verlor.
Statt eines Kleidungstücks, das einzig den höheren Klassen vorbehalten war, wurde das Kopftuch von gewöhnlichen Menschen getragen und galt zudem noch als Zeichen von Bescheidenheit. Eine weitere Bedeutungszuschreibung erfuhr der Hidschab, als er zum Erkennungsmerkmal der Zugehörigkeit zu einer der neu entstehenden islamischen Parteien wurde und als sich die Stärke der Partei an seiner Verbreitung innerhalb einer Gemeinde ablesen ließ.
Das wichtigste Ereignis in der neueren Geschichte war das jüngste Hidschab-Verbot in der Öffentlichkeit in Frankreich. Dabei wurden den bestehenden Bedeutungen zwar keine neuen Zuschreibungen hinzugefügt, jedoch alte weiter vertieft und verstärkt.
Auch in ganz pragmatischer Hinsicht entwickelte der Hidschab neue Bedeutungen. Viele Frauen denken nicht an Machtfragen und Politik, wenn sie das Kopftuch anlegen. Die meisten von ihnen werden wohl auch nichts über die originären oder neueren Bedeutungen, die das Kleidungsstück angenommen hat, erfahren. Einige tragen es, weil es sie, nach eigener Aussage, vor Zudringlichkeit und Belästigung schützt. Andere schätzen an ihm, dass es die Notwendigkeit vermindert, sich eine Vielzahl an Kleidungsstücken zuzulegen und ständig mit anderen Frauen in Kleidungsfragen konkurrieren zu müssen.
Wiederum andere denken, dass das Tragen des Hidschabs ihre Chancen erhöht, einen Ehepartner zu finden. Ihre Argumentation: Auch wenn Männer gerne mit unverschleierten Frauen flirten, so bevorzugten sie zur Gründung einer Familie doch bescheidene und folgsam auftretende Frauen. Und schließlich gibt es noch jene, die behaupten, Gott habe ihnen befohlen, das Kopftuch zu tragen.
Es mag in naher Zukunft nicht möglich sein, zu unserem einstigen, ursprünglichen Naturzustand zurückzukehren, als Gender und ihre jeweiligen Zuschreibungen noch nicht existierten. Aber es ist wichtig, sich ab und an zu vergegenwärtigen, dass es sich bei unserer jetzigen Geschlechterkonstruktion weder um eine natürliche, noch eine allen zuträgliche handelt.
Daher müssen wir die konstruierten Grenzen zwischen den Geschlechtern immer wieder überwinden. In westlichen wie in östlichen Gemeinschaften gibt es viele Möglichkeiten, dies zu tun. Wenn ein Mann einen Hidschab trägt, ist dies eine davon.
Abdullah Hamidaddin
© Babelmed/Qantara.de 2014
Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de