Ein Toter kann nicht zensiert werden
Unpolitisches Theater mache keinen Sinn, meint der Intendant des Mülheimer "Theater an der Ruhr", Roberto Ciulli. Der 75-jährige Regisseur und Theater-Leiter weiß, wovon er spricht: seine Inszenierungen sind politisch, erst recht aber seine internationalen Projekte. Eines davon der Austausch von Theater zwischen Mülheim und dem Iran. Seit zehn Jahre gastiert das "Theater an der Ruhr" im Iran und ist dann Gastgeber der unterschiedlichsten iranischen Ensembles in Mülheim.
Zur diesjährigen "Theaterlandschaft Iran" waren sechs Ensembles mit rund 60 Schauspielern, Regisseuren und Mitarbeitern gekommen. Dabei ist dem aus Mailand stammenden Ciulli klar, dass iranisches Theater auf andere Weise politisch ist als deutsches Theater. Aufgrund der iranischen Gesetze und Bestimmungen kann im iranischen Theater vieles nur versteckt und verschlüsselt ausgesprochen werden. Erst recht nicht in Zeiten der politischen, gesellschaftlichen und sozialen Spannung im Iran.
Klare und unverhüllte Kritik
Umso größer die Überraschung selbst für den erfahrenen Ciulli, dass diesmal "Klartext gesprochen" wurde. Zumindest in einem Fall und da, wo man es am wenigsten erwartet hätte: Am Ende des ebenso beeindruckenden wie atemberaubenden Pantomime-Balletts "Unglaublich aber wahr" begann einer der Akteure, der 23-jährige Afshin Ghaffarian, zu sprechen. In Deutsch, zuerst scheinbar gestammelt, schließlich deutlich und klar: "Freiheit für Iran". Am Handgelenk ein grünes Band – Zeichen für die Opposition, die sich um ihren Wahlsieg betrogen fühlt. So deutlich wird man sonst nicht. Auch nicht während der Woche in Mülheim.
Da wird eher zu den bisherigen Mitteln gegriffen, um die Zensur ad absurdum zu führen: Man bedient sich einer indirekten Sprache, Bildern und Metaphern, die nur schwer verboten werden können. Zum Beispiel der Rückgriff auf die Techniken von (im Iran offiziell erlaubten und gepflegten) Passionsspielen, Gedichte berühmter Dichter, alte Fabeln oder auch Puppenspiele – wie in "Der Kreislauf der Erde" meisterhaft vermengt mit dem Spiel der Schauspielerinnen. Afshin Ghaffarian findet nichts dabei, so direkt geworden zu sein: Er spreche doch nur aus, was Millionen anderer junger Leute im Iran heute fühlten und meinten.
Ob er nicht Strafmaßnahmen fürchte? In Teheran habe er auf der Bühne dasselbe gesagt, meint er achselzuckend. Wenn jetzt etwas gegen ihn unternommen werden, dann sei "das nun mal so". Bei den Auftritten des Mülheimer Theaters im Iran müsse man sich natürlich immer gewaltig umstellen, erzählt Ciulli. Umarmungen von Mann und Frau, erst recht Küsse auf der Bühne, seien strikt verboten.
Kurioses aus der Welt der verklausulierten Kritik
Andererseits seien die Zensoren selbst auch Theaterleute und haben bisher immer großes Verständnis für solche Probleme gezeigt. Küsse etwa werden nur angedeutet oder gar durch ein abruptes Innehalten und den Hinweis der Schauspieler auf den Paragrafen 25 der Zensurbestimmungen abstrahiert und ins Absurde geführt, das für das iranische Publikum aber verständlich ist. Denn so, wie der Iran nicht nur eindimensional beschrieben werden könne, so gelte dies auch – erst recht – für das Theater: Was auf der Bühne gesagt wird, ist oft verklausuliert und umschrieben.
So weit, dass ganz "unbequeme" Sätze Toten in den Mund gelegt werden: Wer tot ist, kann nicht zensiert werden. Oder pazifistische Soldaten treten mit Blumen in der Hand auf. Sie bekreuzigen sich – für den Zensor klar, dass hier keine iranischen Soldaten gemeint sein können… Solche Techniken fordern das iranische Publikum wahrscheinlich mehr als auch die modernste deutsche Aufführung es dem deutschen Publikum gegenüber tut: Die Zuschauer im Iran müssen immer wieder aufs Neue entscheiden, sie müssen aktiver mitdenken, während die deutschen Zuschauer verwöhnt sind, die "Botschaft" passend und mundgerecht serviert zu bekommen. Ein Grund mehr dafür, dass das moderne iranische Theater nicht einfach modernes Theater aus dem Ausland kopiert.
Beitrag zum interkulturellen Dialog
Es ist immer wieder damit beschäftigt, "das Unaussprechbare sichtbar zu machen", während das deutsche Publikum leichter "verführbar" sei, so Ciulli. Die "Theaterlandschaft Iran" entstand einst aus dem "Projekt Seidenstraße", es hat aber längst Eigenständigkeit gewonnen. Fast vergessen die Anfangsschwierigkeiten und das Misstrauen, das offizielle iranische Stellen zeigten. Natürlich habe es im Laufe der letzten zehn Jahre auch schon bessere Zeiten als jetzt gegeben – etwa unter Präsident Mohamad Khatami und dessen reformfreudigem Kulturminister Ataollah Mohajerani.
Aber der Austausch weite sich beständig aus: Noch nie waren so viele Ensembles in Mülheim wie diesmal und Roberto Ciulli zeigt sich zufrieden, er ist sicher, dass sein Beitrag zum interkulturellen Dialog auch weiterhin reiche Früchte tragen werde.
Peter Phillip
© Qantara.de 2009