Wir brauchen ungeteiltes Mitgefühl
Der Schock über den Überfall der Hamas sitzt tief. Im Morgengrauen des 7. Oktober überwanden ihre Kämpfer die Grenzanlagen zum Gazastreifen und ermordeten über 1.400 Menschen – Soldaten und Zivilisten, darunter Hunderte Besucher eines Musikfestivals und Bewohner angrenzender Ortschaften.
Ganze Familien sind unter den Opfern, viele Frauen, Kinder, sogar Babys. Über 200 Menschen nahmen die Terroristen als Geiseln und entführten sie in den Gazastreifen. Vier von ihnen wurden inzwischen freigelassen. Unter ihnen sind viele junge Menschen, die familiäre Verbindungen in alle Welt hatten. Es könnten Freunde oder Angehörige von uns sein – so denken und fühlen viele, auch ich.
Man muss das als Terror bezeichnen, denn er verbreitet Angst und Schrecken, und Massaker an Zivilisten sind ein Kriegsverbrechen. Auch wer der Meinung ist, Palästinenser hätten das Recht, Widerstand gegen ihre andauernde Unterdrückung zu leisten, muss das anerkennen. Denn auch für Widerstand gelten die Regeln des Völkerrechts.
An Regeln halten müssen sich aber auch jene, die auf solchen Terror reagieren müssen. Regierungen müssen dabei die Verhältnismäßigkeit wahren. Zweifel sind angebracht, dass die israelische Regierung sich daran hält. Keine zwei Tage nach dem Angriff der Hamas kündigte der israelische Verteidigungsministers Joav Gallant eine vollständige Blockade des Gazastreifens an – "kein Strom, keine Lebensmittel, kein Wasser, kein Gas“.
Kollektive Bestrafung der Menschen in Gaza
Zur Begründung sagte er, sein Land kämpfe gegen "menschliche Tiere“. Das ist eine gefährliche Sprache und die (nur teilweise durch US-amerikanischen Druck abgeschwächte) Totalblockade kommt einer kollektiven Bestrafung der Bevölkerung von Gaza gleich.
In der ersten Woche des Krieges hat die israelische Armee nach eigenen Angaben mehr als 6.000 Bomben über Gaza abgeworfen, so viel wie noch nie in so kurzer Zeit, und unter anderem das zentrale Geschäftsviertel Rimal verwüstet. Dort hatten Einkaufszentren und Ministerien, die Büros internationaler Medien und Hilfsorganisationen ihren Sitz, nun gleicht die Gegend einer Mondlandschaft.
Seit den israelischen Angriffen sind nach Angaben des UN-Nothilfebüros Ocha bereits mehr als 5.000 Menschen getötet worden (Stand 24.10.), darunter nach Angaben des UN-Kinderhilfswerks UNICEF 2360 Kinder und Jugendliche – mehr Menschen als nach dem letzten großen Gazakrieg im Sommer 2014, der immerhin 50 Tage andauerte.
Auch damals gab es eine Bodenoffensive, jetzt steht wohl wieder eine bevor. Doch Israels Premier Netanjahu drohte, das sei erst der Anfang gewesen. Israels Reaktion auf den Angriff der Hamas werde "über Generationen nachhallen“.
Israel wirft der Hamas vor, Menschen als "Schutzschilde“ zu missbrauchen, sich inmitten der Zivilbevölkerung zu verstecken oder Waffen zu lagern. Das mag stimmen – es entbindet die israelische Armee aber nicht von ihrer Verantwortung, Zivilisten zu schonen. Stattdessen hat sie wiederholt rund 1,1 Millionen Zivilisten aufgefordert, den Norden des Gazastreifens zu verlassen – eine Forderung, die UN-Generalsekretär Antonio Guterres als "extrem gefährlich“ bezeichnet hat.
Juden und Jüdinnen weltweit fühlen sich durch Bilder von ganzen Familien mit Kindern, die von den marodierenden Mörderbanden der Hamas ermordet wurden, an Pogrome und an den Völkermord durch die Deutschen erinnert, dem rund sechs Millionen Juden zum Opfer fielen. Palästinenser fühlen sich angesichts der Bombardierung und der Aufrufe der israelischen Armee, ihre Heimat zu verlassen, an die Schrecken der Nakba erinnert, die gewaltsame Vertreibung und Flucht von rund 700.000 Palästinenser:innen im Zuge der israelischen Staatsgründung 1947. Gegen Gefühle kann man schlecht argumentieren.
Wer glaubt, ohne die Hamas würde Frieden in Gaza herrschen, ist naiv oder kennt den Konflikt nicht. Es ist nachvollziehbar, dass viele Deutsche mit jüdischen Israelis und ihren jüdischen Nachbarn in Deutschland mitfühlen. Weniger verständlich ist, wie manche hierzulande die Gewalt gegen Palästinenserinnen und Palästinenser relativieren oder rechtfertigen.
Wie will denn die Bundesregierung glaubwürdig in anderen Konflikten auf das Völkerrecht pochen, wenn sie jetzt schulterzuckend reagiert, als seien die Menschen in Gaza an ihrem Schicksal irgendwie selbst schuld? Das ist ein politisches Versagen. Die Menschen in Israel und in den palästinensischen Gebieten verdienen unser ungeteiltes Mitgefühl und unsere Hilfe.
Mehr als 200 Geiseln sollen sich noch in den Händen der Hamas befinden. Sollte die israelische Armee mit den Bombardierungen fortfahren und im Gazastreifen einmarschieren, sind auch ihre Leben bedroht.
Es wird keine militärische Lösung geben
Wer glaubt, ohne die Hamas würde Frieden in Gaza herrschen, ist naiv oder kennt die vergangenen 75 Jahre dieses Konflikts nicht. Sollte die Hamas "vernichtet“ werden, wie es jetzt heißt, wird eine andere Gruppe an ihre Stelle treten – jedenfalls solange sich nicht die Bedingungen ändern, die dazu geführt haben, dass so eine mörderische wie selbstmörderische Organisation überhaupt entstehen und sich im Gazastreifen etablieren konnte.
Israel kann die Hamas militärisch schwächen, aber der Preis wird das Leben von tausenden Zivilisten sein. Der Glaube, das Problem damit zu beseitigen, wird sich wie schon so oft als Illusion erweisen. Es wird keine militärische Lösung geben.
Statt sich vorbehaltlos hinter Israels Regierung zu stellen, wäre es besser, die deutsche Regierung würde sich für einen Waffenstillstand und für eine dauerhafte politische Lösung einsetzen. Angesichts von Übergriffen auf Synagogen und antisemitischen Slogans auf deutschen Straßen ist es selbstverständlich, dass deutsche Politiker sich schützend vor Jüdinnen und Juden in Deutschland stellen und diese Straftaten verurteilen.
Doch ein Wort des Mitgefühls gegenüber Palästinenserinnen und Palästinensern hierzulande, die um die Menschen im Gazastreifen bangen und zugleich unter Pauschalverdacht geraten, würde auch nicht schaden und könnte ihnen ihre Ängste nehmen.
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