Revolte gegen Lieferdienst Wolt
Vereint sind Arbeiter unbesiegbar! Was wollen wir? Unsere Löhne! Wann wollen wir sie? Jetzt! Diese Parolen hallten am 19. Juni 2023 über den Platz vor dem Gebäude Zentrum Kreuzberg am U-Bahnhof Kottbusser Tor, als 50 Wolt-Beschäftigte – viele mit Migrationshintergrund – gemeinsam mit zahlreichen Sympathisanten auf die Straße gingen, um gegen vorenthaltene Löhne, für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, für mehr Arbeitsschutz und Arbeitnehmerrechte zu demonstrieren.
Auf einem zehn Meter langen Spruchband war zu lesen: "Wolt schuldet uns Geld und Rechte“, gefolgt vom Logo der Kampagne "ReWolt“ in Anlehnung an den Namen des Lieferdienstes und das Wort "Revolte". Auf einigen Plakaten waren weitere Forderungen zu lesen: "Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für alle“ und "Stoppt den Lohndiebstahl“. Die Demonstranten sangen Lieder in verschiedenen Sprachen und skandierten Parolen gegen Wolt und den mutmaßlichen Lohndiebstahl.
Proteste der Kuriere von Lieferdiensten sind in Berlin nichts Neues. Ähnliche Fälle sind von den Lieferdiensten Gorillas und Lieferando bekannt, wo es den Beschäftigten gelungen war, Betriebsräte zu gründen. Diese Proteste sind nicht auf Berlin oder Europa beschränkt. Beschäftigte in China und Korea, Indien, Brasilien und Aserbaidschan organisieren sich in ähnlicher Weise.
Where? Arbeitsgericht, Magdeburger Platz 1, 10785, R509 pic.twitter.com/GsIWY61M9K
— Lieferando Workers Collective (LWC) Berlin (@LWC_Berlin) July 5, 2023
Die Subunternehmer begehren auf
Aufgerufen zu den Protesten hatte das Wolt Workers Collective in Berlin. Auslöser für die jüngste Protestbewegung in Deutschland war, dass 120 Kurieren mehrere Monate lang die Bezahlung verweigert worden war. Die Betroffenen gehören zur sogenannten "Flotte“, also den Gelegenheitsarbeitern, die von Subunternehmern für Lieferfirmen eingesetzt werden.
Die Betroffenen geben an, von Wolt über einen Subunternehmer eingestellt worden zu sein. Dieser Subunternehmer namens Ali soll in Neukölln einen Handyshop unter dem Namen "Mobile World“ betreiben. Ein Großteil der angeworbenen Arbeitskräfte sind Studierende südasiatischer Herkunft.
Bei der ersten Protestaktion im April fuhren die Demonstranten mit Fahrrädern vom U-Bahnhof Karl-Marx-Straße zur Wolt-Zentrale in Friedrichshain. Dort wollten sie der Geschäftsführung einen Katalog mit Forderungen übergeben. Doch die Geschäftsleitung weigerte sich, ihn entgegenzunehmen. Als Muhammad, der Wortführer der Proteste, den Katalog in den Briefkasten des Unternehmens werfen wollte, wurde ihm mitgeteilt, dass es bei Wolt keinen Briefkasten gebe.
Was ursprünglich als Kampagne der Beschäftigten der "Flotte“ begann, denen die Löhne vorenthalten wurden, hat sich zu einem kollektiven Kampf entwickelt, an dem sich auch Festangestellte von Wolt beteiligen. Sie fordern nun gemeinsam unter anderem die Auszahlung der ausstehenden Löhne, mehr Sicherheit am Arbeitsplatz, eine Arbeitsunfallversicherung, ein Ende des Subunternehmersystems und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.
Kuriere ohne Lohn
"Ich komme aus Pakistan und studiere hier in Berlin“, sagt Muhammad. "Um über die Runden zu kommen, arbeiten meine Frau und ich in Gelegenheitsjobs. Wolt hat mir drei Monatslöhne gestohlen. Aber ich bin nicht der Einzige. Vielen ausländischen Studierenden geht es ähnlich. Die meisten haben Angst zu protestieren, weil sie Migranten sind. Ich bin schon acht Mal zu Ali gegangen, um meinen Lohn einzufordern. Aber er hat mich immer wieder weggeschickt und schließlich behauptet, er habe selbst kein Geld von Wolt für unsere Löhne bekommen. Dabei ist es doch das Mindeste, dass wir unser Geld bekommen, wenn wir die Aufträge pünktlich ausgeliefert haben.“
Seine indische Kollegin Shiwani, der ebenfalls der Lohn vorenthalten wurde und die auch in Berlin studiert, bestätigt, wie schwierig es für Studierende aus Asien ist, die teuren Mieten und die hohen Studiengebühren zu stemmen. Sie kam im Dezember als Fahrerin zu Wolt.
"Auch im kalten Winter haben wir Bestellungen zuverlässig ausgeliefert“, sagt sie. "Uns sind fast die Hände abgefroren. Währenddessen saßen die Wolt-Manager in ihren warmen Büros. Sie verdanken ihr Einkommen und ihren Komfort unserer Arbeit. Und doch betrügen sie uns um unseren kargen Lohn. Wir haben ein Recht auf Lohn! Uns steht mindestens der Mindestlohn pro Stunde zu. Die Bezahlung pro Auftrag gehört abgeschafft!“ Viele Wolt-Kuriere geben an, dass sie pro Auftrag und nicht pro Stunde bezahlt werden.
Wolt weigert sich zu zahlen
Abhay, ein weiterer Fahrer mit indischen Wurzeln, berichtet, dass er nach seiner Ankunft in Deutschland erfahren habe, wie hier die Rechte der Beschäftigten geschützt werden. "Als ich bei Wolt anfing, war es ein einziges Auf und Ab“, sagte Abhay. Im Dezember und Januar habe er acht bis zehn Stunden am Tag gearbeitet, weil er das Geld für die Studiengebühren und andere Ausgaben benötigte.
"Aber was bekam ich für meine Arbeit? Wolt weigerte sich, mir meinen Lohn zu zahlen. Zuerst hoffte ich, das Geld im nächsten Monat zu bekommen“, erzählt Abhay. "Aber ich habe weder für November noch für Dezember oder Januar Geld bekommen. Wolt hat sogar bestritten, dass wir überhaupt dort arbeiten. Aber wir können beweisen, dass wir für Wolt gearbeitet haben. Wir wollen unseren Lohn!“
Joey, ein Rider von Gorillas, verlas eine Ansprache im Namen eines Festangestellten von Wolt, der anonym bleiben wollte: "Alle Leiharbeiter sollten sofort festangestellt werden und die gleichen Rechte wie die Festangestellten erhalten. Gleiche Rechte für gleiche Arbeit!“ In einer weiteren Rede bekundeten die Wolt-Beschäftigten ihre Solidarität.
Opfer von strukturellem Rassismus
Die Demonstranten stellten die Ausbeutung von Arbeitsmigranten in Deutschland in den Kontext eines strukturellen Rassismus, dem Arbeitsmigranten in Europa ausgesetzt sind. Sie verwiesen auf die tragischen Bootsunglücke im Mittelmeer mit Migranten aus Pakistan, Syrien und anderen Staaten und verurteilten die gleichgültige Haltung Europas.
Auch deutschstämmige Arbeitnehmer thematisieren die strukturelle Benachteiligung von Arbeitsmigranten. Martin, ein Mitglied der IG Metall (der größten Einzelgewerkschaft in Deutschland und der weltweit größten, organisierten Arbeitnehmervertretung weltweit), sagte auf der Kundgebung, seine Gewerkschaft vertrete zwar eine andere Branche, aber es sei wichtig, dass die Arbeitnehmer gemeinsam für ihre Sache kämpften.
Entscheidend sei die Solidarität der Beschäftigten untereinander im gemeinsamen Kampf mit den Gewerkschaften aus der gleichen Branche – wie der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), Ver.di und anderen. Letztlich sei dieser Kampf nicht nur für die jeweilige Branche wichtig, sondern für die gesamte Arbeitnehmerschaft.
"Je mehr sich solche prekären Arbeitsverhältnisse ausbreiten, desto mehr geraten die Löhne überall unter Druck! Deshalb ist die Unterstützung in diesem Kampf nicht nur aus Solidarität geboten, sondern liegt im Eigeninteresse aller Beschäftigten,“ sagt er.
"Wenn die Unternehmen nicht bereit sind, existenzsichernde Löhne pünktlich zu zahlen, dann sollte man sie ohne Entschädigung enteignen. Wir müssen uns von einem System verabschieden, das auf Ausbeutung, Rassismus, Krieg und Unterdrückung beruht.“
Vor einiger Zeit gingen die Menschen in der deutschen Hauptstadt schon einmal mit der Forderung nach Enteignung auf die Straße. Im Jahr 2021 stimmte eine Mehrheit der Teilnehmer am Volksentscheid "Deutsche Wohnen & Co. Enteignen“ für die Enteignung und Vergesellschaftung großer privater Wohnungsunternehmen. Eine Umsetzung des Votums aus diesem Volksentscheid ist jedoch bis heute nicht erfolgt.
Wolt Berlin | Demo and Streik 05.04.23 von Lieferando Workers Collective auf Vimeo.
"Wir sind nicht mehr bereit, mit unseren überhöhten Mieten die Gewinne der Aktionär*innen zu finanzieren“, heißt es auf der Website der Initiative. Zunehmend infrage gestellt werden die Profite von Unternehmen, die von der prekären Lage der Beschäftigten in der Gig Economy profitieren, in der kleine Aufträge kurzfristig an Gelegenheitsarbeiter vergeben werden. Auch deutsche Schülerinnen und Schüler nahmen an der Demonstration teil, um ihre Solidarität mit den Betroffenen auszudrücken.
Zum Abschluss der Protestveranstaltung führte das Theater X ein Straßentheaterstück über die Notlage der Kuriere auf. Regisseurin Nika sagte, sie sehe den anhaltenden Kampf der Wolt-Kuriere als Teil eines größeren Kampfes in Deutschland. "Ihr Kampf inspiriert uns alle!"
Muhammad, Shiwani, Abhay und einige andere haben Klage gegen Wolt wegen Lohndiebstahls eingereicht. Die gerichtliche Anhörung war für den 27. Juli 2023 angesetzt. Die Kläger baten die Teilnehmer der Demonstration um Unterstützung. Nach der Kundgebung sagte Muhammad: "Es hat uns Mut gemacht, dass so viele Menschen an dem Protest teilgenommen und ihre Solidarität bekundet haben. "Wir werden gewinnen.“
Minerwa Tahir
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Minerwa Tahir ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Zentrum Moderner Orient (ZMO) in Berlin.