"Unsere Opfer zählen nicht"

Bei den Gedenkfeiern zum sechzigsten Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs fanden die Kriegsopfer aus den ehemaligen Kolonien keine Erwähnung. Diese Lücke schließt das Buch "Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg".

Von Götz Nordbruch

​​Über 20.000 Menschen nahmen am 8. Mai an einem Gedenkmarsch in der algerischen Stadt Sétif teil. Während in Europa Zehntausende den sechzigsten Jahrestag der deutschen Kapitulation im Zweiten Weltkrieg begingen, gedachten die Teilnehmer zahlreicher Veranstaltungen in Algerien den bis zu 40.000 Opfern, die am 8. Mai 1945 von der französischen Armee in verschiedenen Städten der algerischen Provinz Constantine getötet wurden.

Bereits seit Tagen erinnern algerische Zeitungen ausführlich an die Geschehnisse vor sechzig Jahren. Tausende waren damals den Aufrufen der algerischen Unabhängigkeitsbewegung gefolgt und feierten – wie in vielen anderen Städten weltweit – den Sieg über den Nationalsozialismus.

Blutbad nach Feierlichkeiten

Der Sieg über Deutschland, der auf französischer Seite wesentlich mit Hilfe von Soldaten aus Nordafrika errungen wurde, bedeutete dabei nicht allein das Ende der Kriegshandlungen in Europa. In den Augen der algerischen Nationalisten fiel mit dem Untergang des nationalsozialistischen Deutschlands zudem das letzte Hindernis für ein von Frankreich unabhängiges Algerien.

Dennoch endeten die Feiern und Demonstrationen in einem Blutbad. Nach Provokationen durch französische Siedler und durch die Polizei kam es im Rahmen der Demonstration zu Ausschreitungen, bei denen schließlich sogar die französische Luftwaffe gegen Zivilisten eingesetzt wurde.

Während die Massaker an der Zivilbevölkerung im Februar 2005 erstmals offiziell von französischer Seite eingeräumt wurden, steht der 8. Mai 1945 in der algerischen Öffentlichkeit seit Jahrzehnten für den endgültigen Beginn des algerischen Unabhängigkeitskrieges gegen Frankreich.

Kritik am offiziellen Gedenken in Europa

Das Buch "'Unsere Opfer zählen nicht' – Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg", das im April im Berliner Verlag Assoziation A erschienen ist, dokumentiert zahlreiche solcher Ereignisse, die die Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkrieges in den ehemaligen Kolonien bis heute prägen. Als Kontrapunkt zu den aktuellen Feierlichkeiten liest sich das Buch, das vom Rheinischen JournalistInnenbüro herausgeben wurde, daher ausdrücklich auch als Kritik dieses offiziellen Gedenkens in Deutschland und Europa.

Räumlich wie zeitlich, so macht die umfangreiche Dokumentation mit ihren zahlreichen Berichten von Augenzeugen deutlich, ist die hiesige Geschichtsschreibung bis heute "eurozentrisch". So ging es in den zahllosen deutschsprachigen Büchern und Fernsehdokumentationen, die im Vorfeld des sechzigsten Jahrestages des 8. Mai 1945 erschienen sind, oft um das Leid der deutschen Bevölkerung.

Ähnlich wie in England, den USA und in Frankreich blieben die Millionen nicht-europäischer Opfer des Krieges in diesen Darstellungen in aller Regel unerwähnt. Dabei kamen während des Krieges allein in China mehr Menschen ums Leben als in den Ländern der Achsenmächte zusammen, schreiben die Autoren.

"In Afrika begann der Zweite Weltkrieg 1935 mit dem Einmarsch der Italiener in Äthiopien. 1937 hatte Japan neben Korea bereits die Mandschurei besetzt und dehnte seinen Krieg gegen China nach Süden aus." In einer solchen Perspektive war der Krieg von Beginn an ein globaler.

Tausende vergessene Tote

In 30 Ländern haben die Autoren daher recherchiert, um die Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges in den Ländern der "Dritten Welt" zu rekonstruieren. Zahlreiche Interviews mit Zeitzeugen, die den Krieg in Afrika, Ozeanien, Asien oder Lateinamerika als Zivilisten oder als Soldaten erlebten, schildern Ereignisse des Krieges, die selbst in detaillierteren Darstellungen des Zweiten Weltkrieges fehlen.

Die blutigen Ausschreitungen der japanischen Armee im chinesischen Nanking im Dezember 1937, bei denen Schätzungen zufolge mindestens 370.000 Menschen getötet wurden, zählen dazu.

Das Massaker in dem französischen Dorf Chasseley, bei dem am 20. April 1940 afrikanische von nicht-afrikanischen Kriegsgefangenen getrennt und schließlich von der deutschen Wehrmacht erschossen wurden, ebenso. Der Friedhof, auf dem die Soldaten begraben sind, entwickelte sich nach dem Krieg zu einer Anlaufstelle für afrikanische Angehörige der Getöteten.

Ergänzt werden diese Schilderungen durch Hintergrundinformationen, die eine Einordnung des Geschehens in den historischen Kontext ermöglichen. So macht der Überblick über die nationalsozialistischen Pläne für Afrika die Traditionslinien der deutschen Kolonialgeschichte deutlich, an die während des Zweiten Weltkrieges von deutscher Seite angeknüpft wurde.

Zweiter Weltkrieg untrennbar mit Kolonialismus verbunden

Eine besondere Rolle kam den afrikanischen Ländern aber auch für Frankreich und Großbritannien zu. Hunderttausende Bewohner der afrikanischen Kolonien hatten bereits in früheren Kriegen als Soldaten der Kolonialmächte gedient. Im Zweiten Weltkrieg entwickelten sie sich gerade für Frankreich zu einer tragenden Säule bei der Verteidigung und später bei der Befreiung des Landes.

Der Zweite Weltkrieg lässt sich insofern kaum von der Geschichte des europäischen Kolonialismus trennen. Als globaler Konflikt erzwang der Krieg zwischen den Achsenmächten und den Alliierten eine Positionierung der nationalen Unabhängigkeitsbewegungen, die sich nicht selten an eben dieser Frage in unterschiedliche Strömungen spalteten.

Die Ermordung des ägyptischen Premierministers, der kurz nach der Verlesung der Kriegserklärung an Deutschland im Februar 1945 von einem pro-deutschen Oppositionellen erschossen wurde, ist nur eines der Beispiele, die von den Autoren angeführt werden.

Gerade anhand der ägyptischen Geschichte lassen sich die Interessenskonflikte der Unabhängigkeitsbewegungen illustrieren. Im Kampf gegen die britische Kolonialmacht sahen weite Teile der ägyptischen Bevölkerung im nationalsozialistischen Deutschland einen potentiellen Partner. Der Vormarsch der Wehrmacht unter General Erwin Rommel 1942 in Richtung Nil erschien hier als Vorbote einer baldigen Befreiung von britischer Herrschaft.

"Für mich stand Rommel für Diktatur"

Diese Begeisterung blieb allerdings keineswegs unwidersprochen. Ägyptische Intellektuelle hielten auch während der Kriegsjahre an der liberalen, demokratischen Tradition fest, die sich in der ägyptischen Literatur und Presse seit den 1920er Jahren verfestigt hatte. Viele von ihnen bezogen ausdrücklich Stellung gegen die nationalsozialistische Ideologie.

Der damals 16-jährige ägyptische Schriftsteller Edwar Al-Charrat erinnert sich im Gespräch mit den Autoren an diese Stimmen: "Ich war politisch und intellektuell reif genug zu begreifen, dass es eine Sache war, für die Befreiung und Unabhängigkeit unseres Landes einzutreten, aber eine ganz andere, eine andere Besatzungsmacht willkommen zu heißen. […] Für mich stand Rommel für Diktatur, Tyrannei und eine rassistische Weltsicht vor allem auf die Menschen der Dritten Welt."

Mit solchen Zeugnissen dokumentiert das Buch eindringlich, inwiefern die Kämpfe des Zweiten Weltkrieges von den Bevölkerungen der Kolonien - damals wie heute -notwendigerweise auch als Teil der Kolonialgeschichte wahrgenommen wurden.

Der algerisch-französische Unabhängigkeitskrieg von 1954-1962 lässt sich ebenso wie die Konflikte in Korea und Vietnam in den 1950er und 1960er Jahren nur vor dem Hintergrund der enttäuschten Unabhängigkeitsbestrebungen in diesen Regionen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges verstehen.

Besonderheit der deutschen Kriegspolitik zu wenig betont

Dennoch liegt gerade in der Betonung dieses Zusammenhanges auch eine Schwäche des Buches. Als Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und als Voraussetzung für die "Endlösung der Judenfrage" im Holocaust unterschied sich der im September 1939 von Deutschland begonnene Krieg wesentlich von allen vorherigen Kriegen, die in Europa, aber auch in den Kolonien geführt wurden.

So richtig es daher ist, die Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg nicht auf die Zeit vom 1. September 1939 bis zum 8. Mai 1945 zu reduzieren, so notwendig ist es dennoch, die Besonderheit der deutschen Kriegspolitik gegenüber den kolonialpolitischen Überlegungen der Alliierten im Zweiten Weltkrieg herauszustellen. Gerade die nationalsozialistische Politik war es schließlich, die die Bewohner der Kolonien vor die Wahl stellte: Kollaboration mit den Achsenmächten oder Unterstützung der Alliierten.

Vor dem Hintergrund der europäischen Kolonialgeschichte sind die in dem Buch dokumentierten Zeugnisse von Zivilisten und Veteranen aus den Kolonien, die die Alliierten unterstützten, schließlich umso lesenswerter.

Goetz Nordbruch

© Qantara.de 2005

​​"'Unsere Opfer zählen nicht' Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg", Rheinisches JournalistInnenbüro/Recherche International e.V. (Hg.) (Berlin/Hamburg: Assoziation A, 2005) ISBN 3-935936-26-5

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Informationen über das Buch beim Verlag Assoziation A