Schreiben, um zu überleben

2011, im Jahr der syrischen Revolution, verließ Dima Wannous ihre Heimat und zog nach Beirut. Ihr neuer Roman ist auch ein persönliches Zeugnis der Bewältigung von Traumatisierungen in Folge von Diktatur und Krieg. Von Volker Kaminski

Von Volker Kaminski

Es beginnt im überfüllten Wartezimmer eines Psychotherapeuten. Täglich überrennen die Patienten Kamils Praxis in Damaskus, Hilfe suchende Frauen und Männer, alte wie junge, die unter psychischen Störungen leiden, doch nicht nur die Opfer, selbst Täter sind darunter, junge muskulöse Männer mit unfreundlichen, stechenden Blicken, auch sie suchen bei Kamil Hilfe.

Sulaima kommt schon seit sechs Jahren in diese Praxis, sie wird von Angstzuständen und Panikattacken verfolgt und ist auf Psychopharmaka angewiesen, um ein halbwegs normales Leben zu führen. Die Gespräche mit Kamil sind oft ihr einziger Halt in ihrem von Selbstmordgedanken und Einsamkeitsgefühlen geprägten Leben. Immer wenn sich eine neue Attacke bei ihr ankündigt, schluckt sie eine halbe "Xanax". Im Laufe des Romans erhöht sie die Dosis, was ihre Psyche jedoch nicht stabilisiert, sondern zu Wahnvorstellungen führt.

Die Krankheit versetzt die junge Künstlerin in einen Zustand erhöhter Wachsamkeit, unermüdlich verfolgt sie das Geschehen um sich herum, registriert kleinste Veränderungen in den Gesichtern und Bewegungen ihrer Mitmenschen. Dass sie nicht mehr malen kann, ist eigentlich nicht verwunderlich, sie ist die geborene Beobachterin, die ihre Umwelt ebenso minutiös beschreibt wie ihre eigenen Empfindungen und Stimmungsschwankungen. Doch tut sie dies nicht ganz freiwillig, sondern aus einem inneren Zwang, einem Übermaß an Leiden, das sie "Angst vor der Angst" nennt.

Im Kreislauf der Angst

In keiner Zeile des Romans kann Sulaima von ihren Angstgefühlen loskommen. Dies gilt auch für die übrigen Protagonisten, die Angst scheint ein kollektives Muster, das die Tage und Nächte sämtlicher Romanfiguren strukturiert und ihr Innenleben beherrscht.

So wird Nassim, ein junger Arzt und Schriftsteller, den Sulaima im Wartezimmer der Praxis kennenlernt, von seinen Angstgefühlen derart gepeinigt, dass er die Angewohnheit hat, sich selbst zu ohrfeigen. Er ist wie Sulaima ein Opfer seiner zahllosen Ängste, doch geht er offensiver damit um. So hat er sich auf den Rücken seinen Name und seine Adresse in einem großen Tattoo einprägen lassen, für den Fall, dass er bei einem Bombenangriff stirbt und nur so identifiziert werden kann.

Die Liebesbeziehung zwischen Sulaima und Nassim kann nicht von Dauer sein, so wie alle menschlichen Beziehungen in der Gegenwart Syriens unweigerlich zu zerbrechen scheinen. Doch als Nassim Syrien verlässt, erhält sie von ihm ein unfertiges Romanmanuskript, worin er das Schicksal einer jungen Frau beschreibt, das dem ihren erstaunlich ähnelt.

Mit diesem Einfall gelingt es Wannous, den beklemmenden Radius der Introspektion zu verlassen und eine zweite Ebene zu betreten. In den Kapiteln "Nassims Papiere" spricht eine andere Frau von sich, auch sie hat ihren Vater früh verloren und ist über den Schmerz nie hinweggekommen. Ihr Bruder geriet bei einer Demonstration mit dem Regime in Konflikt und wurde verhaftet, seitdem ist er "verschwunden". Die Familie ist zerbrochen und die junge Frau, die mit ihrer Mutter allein lebt, beschließt Syrien zu verlassen.

All das widerfährt auch Sulaima, sodass sie davon überzeugt ist, dass Nassim ihr in diesem Roman ihr "Leben gestohlen" hat. Fasziniert und erschüttert zugleich liest sie, was Nassim über jene Salma schreibt, die er so gut zu kennen scheint. Schließlich beschließt sie, Salma in Beirut zu treffen.

Dem Gefühl der "Nichtzugehörigkeit" und dem Wahnsinn nahe

Wannous' Erzählstil ist nüchtern und oft schmerzlich genau, was die Detailbeschreibungen menschlichen Leidens betrifft. An keiner Stelle verspricht der Roman eine Hoffnung auf ein angstfreies Leben. Die Protagonisten fühlen sich heimatlos, sie leiden unter dem Gefühl der "Nichtzugehörigkeit" und sind oft dem Wahnsinn nahe.

"Ich kann mich an nichts anderes erinnern als an die Angst", sagt Sulaima bezüglich ihrer Kindheit. Schon als 14jährige weint sie oft tagelang, damals hat sie gerade ihren Vater verloren, der an Krebs starb. Natürlich stellt sich bei einer so schonungslosen, radikalen Perspektive auf das Innenleben der Romanfiguren die Frage, wie autobiographisch gefärbt die Geschehnisse sind.

Die syrische Autorin Dima Wannous; Foto: picture-alliance
Dima Wannous ist eine bekannte syrische Fernsehjournalistin und Schriftstellerin. Vor ihrem Buch "Die Verängstigten" erschien ihr Roman "Dunkle Wolken über Damaskus", das von der vorrevolutionären Zeit in Syrien erzählt. Es wurde 2013 in Deutschland bei Edition Nautilus veröffentlicht. Wannous lebt heute in Beirut.

Wannous hat auf dem diesjährigen Internationalen Literaturfestival in Berlin den fiktionalen Anteil ihres Romans betont. Als Schriftstellerin setze sie ihre Phantasie ein, um den Romanfiguren möglichst nahe zu kommen, auch wenn gewisse Konstellationen aus ihrem eigenen Leben geschöpft sind.

Kräftemessen mit dem Vater

So ist die enge Beziehung zwischen Tochter und Vater angelehnt an Wannous' eigene Geschichte (ihr Vater war einer der wichtigsten modernen Dramatiker Syriens), dennoch sei auch dieses enge Verhältnis und das Kräftemessen mit dem Vater etwas Typisches und die Erinnerungen an ihn hätten ihr eher geholfen ihre Romanfiguren frei zu formen.

Einer anderen Vermutung erklärte Wannous dagegen eine klare Absage: Sie habe mit ihrem Roman keine vordergründige politische Absicht verfolgt und sehe sich auch nicht als engagierte Autorin und Verfasserin von "Manifestliteratur". Ihre Darstellung der syrischen Wirklichkeit sei zwar realistisch und diene ihr auch dazu, die grausame Realität, die im Land herrscht, in Form von Literatur zu transportieren ("auch nach Deutschland"), doch das Wichtigste sei ihr die Individualität der dargestellten Menschen, das Sichtbarwerden der Personen in ihren Verletzungen und in einem Umfeld, in dem jede menschliche Vertrautheit beschädigt scheint.

Die politische Seite des Romans wird allerdings in den hinteren Passagen konkreter, auch was die zugrunde liegende Brutalität der syrischen Gegenwart betrifft. So erfahren wir, dass Nassim dreißig Tage in einem Foltergefängnis verbringen musste (in einem Trakt mit der zynischen Bezeichnung "Abteilung für Tod und Wahnsinn"), und wir verstehen besser, warum er unter Angststörungen leidet. Selbst der Therapeut Kamil, der mitunter wie ein Ruhepol im Text wirkt, verliert gegen Ende seine Kraft und ist erschöpft und ratlos.

Selten hat ein Roman auf derart hohem literarischem Niveau so klar von der nackten Verzweiflung gesprochen und die schier unheilbare Spaltung der Gesellschaft so eindringlich gemacht wie dieser bohrend beunruhigende Text.

Volker Kaminski

© Qantara.de 2018

Dima Wannous: "Die Verängstigten", Aus dem Arabischen von Larissa Bender, Blessing Verlag 2018, 256 Seiten, ISBN: 9783896676276