Jüdisches Exil in der Türkei
"Für die Deutschen bin ich der Türke, für die Türken bin ich der Deutsche", lacht Enver Hirsch in die Kamera. Sein Vater hat als Jurist und deutscher Emigrant bis heute gültige Gesetzestexte für die Türkei verfasst, unter anderem das türkische Handelsrecht. Kaum jemand weiß das noch. Sein Sohn arbeitet als Unternehmer in beiden Ländern.
Kurt Heilbronn pendelt als Psychotherapeut zwischen Deutschland und der Türkei. Sein Vater war Gründer des Botanischen Instituts in Istanbul, ein hoch anerkannter Pflanzengenetiker in Deutschland, bevor ihn die Nazis 1933 aus Amt und Würden jagten. Kurz nach seiner Flucht bekommt er einen Ruf als Professor - auf Einladung von Kemal Atatürk, des Gründervaters der modernen Republik Türkei. Der Deutsche soll die Landwirtschaftliche Hochschule in Istanbul neu aufbauen.
Atatürk entwirft Ende der 1920er Jahre eine visionäre Hochschulreform: Er will die osmanisch geprägte Türkei mit allen Mitteln zu einem modernen Staat machen. Die arabische Schrift lässt er verbieten, und landesweit durch lateinische Buchstaben ersetzen. Die jungen Leute sollen nach westlichem Vorbild studieren können und alle eine fundierte Ausbildung erhalten. Auch junge Frauen, die in der laizistischen Türkei damals keinen Schleier mehr tragen müssen, schreiben sich an den Hochschulen als Studentinnen ein, erzählt Eren Önsöz, deren Dokumentarfilm "Haymatloz" derzeit in den deutschen Kinos läuft.
1933: Willkommenskultur in der Türkei
Die aus Nazi-Deutschland emigrierten Hochschullehrer kommen zur richtigen Zeit: Sie werden beim Aufbau eines neuen, modernen Hochschulsystems gebraucht. Mit fünf Lebensgeschichten erzählt der Film wie schnell und unbürokratisch die Deutschen als Professoren an türkischen Akademien und Hochschulen und in Ministerien und Behörden eingesetzt wurden. Überall sind sie willkommen mit ihrem Fachwissen, hier sind sie "Die Deutschen", nicht jüdische Wissenschaftler. Ganze Generationen türkischer Studenten werden von diesen Wissenschaftlern unterrichtet.
Heute ist dieses Kapitel deutsch-türkischer Geschichte weitgehend vergessen: Nach Hitlers Machtergreifung bei den Reichstagswahlen durften jüdische Forscher und Professoren an deutschen Hochschulen keine offiziellen Ämter oder Funktionen mehr bekleiden. Das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933 verfügte rigoros: "Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den sofortigen Ruhestand zu versetzen." Mit viel Glück werden viele der Wissenschaftler rechtzeitig gewarnt und können ins Ausland emigrieren - über die Schweiz auch in die Türkei.
Zentrale Anlaufstelle für jüdische Emigranten war damals die "Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland mit Sitz in Zürich. Gegründet hatte sie der Pathologe Philipp Schwartz, der mit seiner Familie aus Hitlers Reich fliehen musste. Mehr als 2.600 verfolgten Akademikern half diese wichtige Institution bei der Flucht und Vermittlung an ausländische Universitäten. Zum Wintersemester 1933/34 wurden 30 jüdische Professoren an der Universität Istanbul angestellt. Ein historisch weitgehend unbekanntes Kapitel, das die Filmemacherin Eren Önsöz hier erstmals aufblättert.
"Das große Schweigen" in der Nachkriegszeit
Die Familien der fünf Protagonisten dieses mit leichter Hand montierten Dokumentarfilms von Regisseurin Önsöz konnten alle vor der Verfolgung der Nazis 1933 fliehen. Die "Kinder" dieser jüdischen Emigranten sind längst im Rentenalter. Mit viel Humor berichten sie vor der einfühlsam geführten Kamera von ihrer Kindheit und Jugend am Bosporus oder in Ankara und von ihren Erlebnissen im Nachkriegsdeutschland.
Die jüdischen Rückkehrer sind nach Kriegsende dort alles andere als willkommen. "Sie haben auch keine Wiedergutmachung bekommen", berichtet Önsöz von ihren Recherchen. "Was auch an den Menschen nagt, die so ins Exil vertrieben wurden. Da heißt es nicht mal: kommt zurück, wir brauchen Euch."
Aufgewachsen sind sie in der Türkei, zu Hause fühlen sie sich irgendwie nirgendwo: Susan Ferenz-Schwartz, Egon Bagda, Kurt Heilbronn, Enver Hirsch und Elisabeth Weber-Belling sind auch Zeitzeugen des "Großen Schweigens" in der jungen Bundesrepublik. Wehmut schwingt in diesem Film mit. Niemand sprach über das Schicksal der jüdischen Mitbürger und Emigranten, kaum jemand wollte sich die Frage einer Mitschuld stellen, weil er nichts gegen die Ausgrenzung und Deportation seiner jüdischen Nachbarn unternommen hatte.
Entdeckung der eigenen jüdischen Geschichte
Kameramann Andreas Köhler wahrt über die unterhaltsamen 90 Minuten hinweg behutsam den Abstand zu den erstaunlich vitalen Protagonisten. Die aufkommende Traurigkeit zwischendurch nimmt den Zuschauer auch so mit - ohne Großaufnahmen tränenerfüllter Augen. "Wir wären auch in Auschwitz", sagt Susan Ferenz-Schwartz und senkt den Blick. "Das war unsere Alternative." Als ihre Familie in die Türkei flieht, ist sie ein Jahr alt, vieles weiß sie nur vom Erzählen. "Dort, in Istanbul, hatten wir ein wunderbares Leben, aber es war auch von Furcht geprägt, vor den Reichsdeutschen, die es ja auch dort gab."
Regisseurin Eren Önsöz hat schon bei ihrem ersten Dokumentarfilm "Import - Export" (2006) eine Reise in die deutsch-türkische Geschichte unternommen. Durch die Dreharbeiten lernte sie Edzard Reuter kennen, Ex-Topmanager bei Mercedes und prominenter Sohn des sozialdemokratischen Politikers Ernst Reuter. Er war sieben, als seine Eltern 1935 in die Türkei emigrierten, erst als 18-Jähriger kehrte er zurück nach Deutschland. Sein Vater hatte in der Türkei als Dozent für Stadtplanung in Ankara gearbeitet und 1939 im türkischen Verkehrsministerium.
Die talentierte Filmemacherin hatte das Thema schon 2008 bei der Berlinale in einem "Pitching", dem Ideenmarkt der jungen Filmemacher, vorgestellt. Die Resonanz war äußerst positiv, aber kein Sender setzte sich dafür ein. "Die Rückkehr der Emigranten wurde in Deutschland anfangs überhaupt nicht positiv gesehen. Und das ist etwas, was sehr traurig ist", sagt Eren Önsöz bei der Premiere in Köln.
Die Türkei heute: Rückschritt in atemberaubendem Tempo
Ihr neuer Dokumentarfilm "Haymatloz", der gerade mit starker Resonanz seine Premierentour quer durch Deutschland absolviert, ist handwerklich exzellent: in wunderbaren Einstellungen gedreht, mit viel Gefühl für Timing und die Kraft der Bilder montiert, und politisch gegen Ende stark akzentuiert. Erdoğan mache derzeit Schritt für Schritt die Modernität und die gesellschaftlichen Fortschritte Atatürks rückgängig, klingt bei den Protagonisten sorgenvoll im Film an.
Damit werden auch die Errungenschaften ihrer Eltern zurückgedreht: bis heute gültige Gesetzestexte des Juristen Ernst Hirsch, den Atatürk für den Staatsaufbau der Türkei damals ins Land holte. Oder Kurse für Aktzeichnen, die der von den Nazis diffamierte Kunstprofessor Rudolf Belling an der Akademie Istanbul eingeführt hat. Ein Schlussakkord, der mit seinem aktuellen politischen Bezug nachdenklich macht.
Er fühle sich mehr denn je zwischen den Welten, meint Kurt Heilbronn, der heute in Frankfurt ein psychosoziales Zentrum für Migranten leitet: "Ich kann nicht allzu lange in Deutschland bleiben und nicht allzu lange in der Türkei. Also reise ich viel hin und her", lacht er mit verhaltenem Optimismus in die Kamera.
Susan Ferenz-Schwartz trägt Wehmut in der Stimme:"Es gehört zu unserem Schicksal, dass wir no man's people sind, dass wir nirgends zu Hause sind", merkt sie an. Ihr Vater rief 1933 die "Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland" ins Leben. Mit seiner Hilfe konnte sich auch der Vater von Kurt Heilbronn in die Türkei retten. "Das ist Schicksal, das ist Kismet", sagt sie am Schluss des Films.
Heike Mund
© Deutsche Welle 2016
Der Dokumentarfilm "Haymatloz - Exil in der Türkei" ist seit 27.10.2016 in deutschen Kinos zu sehen. Auf dem Internationalen Filmfestival in Sao Paulo/Brasilien (20.10. -2.11.2016) läuft er derzeit im Wettbewerb.