Das arabische Gedächtnis befreien
In der Nacht zum 4. Februar 2021 wurde der libanesische Intellektuelle und Menschenrechtsaktivist Lokman Slim mit gezielten Kopfschüssen in seinem Auto ermordet. Slim publizierte literarische Zeugnisse von Gewalterfahrungen aus der arabischen Welt und hatte ein privates Archiv des libanesischen Bürgerkriegs mit aufgebaut. Wie viele Aktivistinnen und Aktivisten, die die Erinnerung an Folter und Willkür der Machthaber wachhalten, wusste er, dass er dafür sein Leben aufs Spiel setzte. Denn gegenläufige Lesarten der Geschichte des 20. Jahrhunderts sind im Landstrich zwischen Marokko und dem Libanon zurzeit etwas, wofür man schnell von der Bildfläche verschwinden kann.
Die Beiträge zu dem Sammelband Erinnerungen an Unrecht, herausgegeben von dem in Hildesheim lehrenden tunesischen Philosophen Sarhan Dhouib, drehen sich um die Werke und Interventionen der wichtigsten Erinnerungsakteure des 20. und 21. Jahrhunderts in Nordafrika, Nahost und dem geteilten Deutschland. Der erste Beitrag des tunesischen Wissenschaftlers Mongi Serbaji beschäftigt sich mit dem Klassiker Portrait du colonisé précédé du portrait du colonisateur (1957, dt. Porträt des Kolonisierten vor dem Porträt eines Kolonialisten) von Albert Memmi, dem tunesischen Schriftsteller, der letztes Jahr im Alter von 100 Jahren verstarb.
Serbajis Artikel führt geradewegs in die aktuellen Debatten der Berliner Republik um (Post-)Kolonialismus und Schuld. Memmi betonte in seinem Werk, dass es die Herrschaft über das Sprachvermögen (die Muttersprache wird entwertet und im Bildungswesen degradiert), wie die Herrschaft über das Gedächtnis sei, die den Kolonisierten schlussendlich entmenschlichen: Zum Regieren sei neben der physischen Gewalt ein kultureller Überbau wie zum Beispiel die "zivilisatorische Mission" nötig, um die absurde koloniale Situation (wenige Ausländer ohne lokales Wissen beuten viele Inländer mit lokalem Wissen aus) zu rechtfertigen.
In der linguistischen Umwertung sieht Memmi ein kulturelles Verhängnis, das die eigene Identität schwer beschädigt. Neben der ökonomisch-politischen Ausbeutung sei die kulturelle und wissensbezogene "Exilierung der Einheimischen aus ihrer eigenen Geschichte“ (Memmi) konstitutiv für die Aufrechterhaltung der kolonialen Herrschaft. Die kolonisierten Gesellschaften werden als geschichtslos dargestellt, um die Erinnerung an deren Leistungen und frühere emanzipatorische Schritte zu tilgen.
"Die Sprachcode- und Gedächtnispolitiken sind Politiken der Entmenschlichung“, schreibt Serbaji. Gleichzeitig kritisiert er Memmi, weil dieser die offensichtliche Frage, warum es paradoxerweise gerade die "zivilisierten‚ demokratischen und der Moderne verpflichteten Völker“ seien, die zu Usurpatoren werden, nicht beantwortet. Und damit ist Serbaji in der aktuellen Debatte um das Zeitalter von Aufklärung, Kolonialismus und Faschismus angelangt.
Literarische Strategien des Erinnerns
Dhouibs Sammelband beschäftigt sich mit den psychologischen und gesellschaftspolitischen Debatten um Gedächtnis und Vergangenheit, mit literarischen Strategien des Erinnerns und Vergessens und der Bedeutung von Zeugnissen über Folter und Gefängnis in Post-Diktatur-Phasen (so die Philosophin Soumaya Mestiri von der Universität Tunis in ihrem Beitrag). Dabei fällt ins Auge: Germanisten aus Nordafrika kommen ebenso zu Wort wie Forschende über literarische Zeugnisse der arabophonen Welt aus Deutschland.
So analysiert der tunesische Germanist Brahim Moussa Uwe Johnsons Jahrestage und die Kulturjournalistin Kenza Sefrioui untersucht die Briefwechsel der Ehepaare Abdellatif und Jocelyne Laâbi sowie Christine Daure-Serfaty und Abraham Serfaty. Abraham Serfaty und Abdellatif Laâbi waren in Schauprozessen in den siebziger Jahren in Marokko zu zehn Jahren bzw. lebenslanger Haft verurteilt worden. Sefrioui nimmt in ihrer Untersuchung der Briefwechsel ausnahmsweise einmal beide Seiten in den Blick: Die der Inhaftierten und die Perspektiver derjeniger, die außerhalb des Gefängnisses auf sie warten.
Welche Strategien zum Überleben haben alle vier gefunden? Wie haben sie ihren Alltag bewältigt? Und was bedeuten die individuellen Erinnerungsliteraturen in den Jahren danach bis heute für die öffentliche Debatte um Recht und Unrecht? Fragen wie diese stellt der Sammelband auch in anderen Kontexten.So schreibt Martina Schiebel über Politische Inhaftierung während der Zeit des Kalten Krieges in Ost- und Westdeutschland.
Zu den spannendsten Entwicklungen als Folge des Arabischen Frühlings gehört sicher die Infragestellung der großen historischen Erzählungen der diktatorischen Regime. Die tunesische Linguistin Moez Maataoui beschäftigt sich mit der Phraseologie in Tunesien während der Herrschaft Ben Alis.
Hohle Schlagwörter werden aufgebrochen
Seit 2011 werden die hohlen Schlagwörter aufgebrochen, sei es durch Material in Privatsammlungen und Online-Archiven, die sich der Kontrolle des Nationalstaats entziehen, durch unabhängige Forschung an Universitäten und außerhalb, durch historische Romane oder Kunstwerke, die sich mit der Fiktionalität der Vergangenheit beschäftigen.
Denn die Bürgerinnen und Bürger wissen, dass die Geschichte, die der Staat sie lehrte, fingiert ist. Sie wissen, dass ihr Nachbar sich nicht ohne Vorankündigung in Luft auflöste, etwa weil er seiner Ehefrau überdrüssig wurde.
Seit 100 Jahren erscheinen Zeugnisse von Gefangenschaft und Widerstand in der arabischen Welt. Wer dichtete gegen die Franzosen und Engländer im eigenen Land? Wer sind die Menschen, die sich den Gewehrsalven aus Hubschraubern entgegenstellten? Wieso wird die Praxis des systematischen Verschwindenlassens politischer Gegner bis heute selten mit der arabischen Welt in Verbindung gebracht? Die von Sarhan Dhouib versammelten Autorinnen und Autoren schließen diese Wissenslücke.
Ihr Band vereint Zeugnisse politischer Gefangenschaft in Ägypten, Syrien, Tunesien, Marokko, der DDR und der BRD und schreibt so gegen die Vereinzelung dieser Erfahrungen an. Politische Morde und ein Netz von offiziellen wie geheimen Gefängnissen sind noch immer Teil des Regierens in Nahost und Nordafrika. Dieses System schüchtert alle Bürger ein, da niemand sicher sein kann, verschont zu bleiben: weder die Graffiti-sprühenden Teenager in Syrien noch ein international angesehener Starjournalist in Marokko.
Der Islamwissenschaftler Stephan Milich und die deutsch-syrische Soziologin Huda Zein nennen dieses System in ihrem Beitrag über "Syrische Gefängnisliteratur der Gegenwart“ "das totale Gefängnis“. Auf einer Konferenz des MENA Prison Forums im letzten Jahr schloss der im Exil lebende syrische Schriftsteller Yassin al-Haj Saleh mit den Worten: "Wir können noch nicht einmal sagen: Das Schlimmste liegt hinter uns.“
© Qantara.de 2021
Sarhan Dhouib, Erinnerungen an Unrecht. Arabisch-deutsche Perspektiven, Verlag Velbrück Wissenschaft 2021.
Sonja Hegasy ist Wissenschaftlerin am Leibniz-Zentrum Moderner Orient.