Wählen für ein besseres Ägypten
Sahar Hanna wusste ganz genau, wo sie ihre Kreuzchen machen wollte. Auf der Parteienliste hat die 20-jährige Koptin ihre Stimme dem "Ägyptischen Block" gegeben, zu dem sich die "Sozialdemokratische Partei", die "Tagammu" und die "Partei der Freien Ägypter" zusammengeschlossen haben.
Auch die zwei Kreuzchen auf der Liste der unabhängigen Kandidaten waren schnell gemacht. Eins für einen Arbeiter, das zweite für einen Bauern, so ist es vorgegeben. Sahar Hanna wählte zum ersten Mal in ihrem Leben, aber sie war vorbereitet. Im Gegensatz zu vielen anderen in ihrem Wahllokal in Shubra, einem Stadtteil im Norden Kairos.
Dort ging es am Montag mittag wild durcheinander. Eine geheime Stimmabgabe war in diesem Tohuwabohu völlig unmöglich. Wähler liefen und redeten durcheinander, tauschten sich aus und gaben sich Tipps. Viele wussten überhaupt nicht, was sie tun sollten, geschweige denn, wen sie wählen wollten. Viele fragten die Wahlhelfer, wo sie ihre Kreuzchen machen sollten. Denn obwohl jeder Kandidat ein eigenes Symbol hat, um ihn auch für Analphabeten erkennbar zu machen, kamen viele mit dem Wahlsystem und der Masse an Kandidaten nicht zurecht.
Sahar Hanna war es wichtig zu wählen, fast zwei Stunden hat sie dafür angestanden und sich trotz der vielen Menschen vor dem Wahllokal nicht abhalten lassen. "Ich will ein besseres Ägypten und mitbestimmen, wie es politisch in diesem Land weitergeht", sagte die Studentin.
Weichenstellung für die politische Zukunft Ägyptens
Es sind die ersten freien Parlamentswahlen nach 30 Jahren Mubarak-Herrschaft und sie werden maßgeblich bestimmen, wohin die Reise in Ägypten in Zukunft politisch geht. Unter- und Oberhaus werden in jeweils drei Phasen gewählt, in jeder Wahlphase werden Wähler aus neun der 27 Gouvernements zur Wahl gebeten.
Am Montag begann die erste Wahlphase unter anderem im Gouvernement Kairo. Die Wahl kommt nach massiven Ausschreitungen in der vergangenen Woche, bei denen mindestens 42 Menschen ums Leben gekommen sind und Tausende verletzt wurden.
Viele der Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Kairo und anderswo im Land hatten zu einem Boykott der Wahlen aufgerufen, doch am Ende hielten alle politischen Parteien am vorgegebenen Wahlbeginn fest. Und trotz Warnungen vor Ausschreitungen versammelten sich schon in den frühen Morgenstunden Tausende vor den Wahlstationen, um ihre Stimme abzugeben.
In Zamalek, einem der reichsten Stadtteile der Hauptstadt, bildeten sich schon um sieben Uhr morgens lange Schlangen vor den Wahllokalen. Viele kamen in Gruppen, mit Freunden, hatten Musik oder ein Buch dabei sowie Hocker, um die Wartezeit zu überbrücken. Mit jeder Stunde wurde die Schlange länger, gegen Mittag zogen sich die Schlangen schon um mehrere Wohnblöcke. "So etwas habe ich noch nie gesehen – die Wahlbeteiligung ist unglaublich", erklärte die Geschäftsfrau Nada Gamal, die mit Mitte 50 zum ersten Mal in ihrem Leben wählt.
Vereinzelte Unregelmäßigkeiten
Doch es gab auch Probleme. Noch vor den Wahllokalen wurde am Morgen von einigen Parteien Wahlkampf betrieben, was verboten ist. Doch weder die Polizisten, noch die Soldaten oder Richter, die die Wahlen überwachten, griffen ein.
Auch in den Wahllokalen gab es Schwierigkeiten. Jeder Wähler musste zwei Wahlzettel ausfüllen. "Uns wurde gesagt, dass jeder Wahlzettel einen Stempel haben muss, doch jetzt fehlt auf einem der Zettel der Stempel und der Richter unterschreibt lediglich", so Nada Gamal. Sie und andere Frauen in der Schlange diskutierten lange mit den Wahlhelfern und eine junge Frau rief schließlich eine Hotline an, um zu erfragen, ob die Wahlzettel trotz fehlendem Stempel gültig sind. "Ich bin doch nicht im Morgengrauen aufgestanden, damit meine Stimme nachher ungültig ist!"
Nach über zwei Stunden Wartezeit kam Nada Gamal aus der Wahlkabine. Sie tunkte ihren Zeigefinger in Tinte und trat strahlend auf die Straße. "Es fühlt sich gut an, gewählt zu haben", sagte sie. Und trotzdem war auch sie besorgt. Denn die Diskussion mit den Wahlhelfern, die ihr am liebsten den Mund verboten hätten, hatte sie wütend gemacht. Die Idee, dass jeder Wähler ein Recht darauf hat, zu wählen und auf freie und faire Wahlen zu bestehen, ist noch nicht bei jedem angekommen. "Wie will man ein korruptes, verfaultes System, das 60 Jahre lang regiert hat, mit einer Wahl beseitigen?"
Die rege Wahlbeteiligung deutet zumindest darauf hin, dass sich die Ägypter ihre Stimme in Zukunft von niemandem mehr nehmen lassen werden.
Amira El Ahl
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de