Ankara wird reformmüde

Noch vor dem Start der EU-Beitrittsverhandlungen scheint der Reformeifer der Türkei nachzulassen. Kritiker sehen Rückschritte in Menschenrechtsfragen. Vielleicht wurde das Land einfach vom Alltag eingeholt.

Von Samira Lazarovic

Wenn EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn und EU-Ratspräsident Jean Asselborn am 7. März zum Treffen mit dem türkischen Außenminister Abdullah Gül nach Ankara kommen, wird auch Unbehagen mitschwingen. Denn in den letzten Wochen haben mehrere Vorfälle die Stimmung getrübt. Über allen schwebt der Vorwurf, dass der Reformeifer der Türkei erheblich nachgelassen hat.

Wo bleibt der Elan?

Noch Ende des vergangenen Jahres sah das ganz anders aus. In den Monaten vor der Entscheidung über die EU-Beitrittsverhandlungen verabschiedete das Parlament unter Ministerpräsident Tayyip Erdogan ein Reformgesetz nach dem anderen - mit Erfolg: Am 17. Dezember 2004 sagte der Europäische Rat die lang ersehnten Beitrittsverhandlungen zu und Erdogan konnte sich in der Türkei feiern lassen.

Dabei habe er sich wohl überanstrengt, meinen nun Kritiker. Denn seither sei in Sachen Reformen nicht mehr viel passiert. Als symptomatisch gilt, dass EU-Erweiterungskommissar Rehn am Montag in Ankara eintreffen wird, ohne dass Erdogan bislang einen Verhandlungsführer für die im Herbst anstehenden Beitrittsverhandlungen benannt hat.

Offener Streit

Mittlerweile wird die scheinbar reformmüde Regierung von allen Seiten unter Druck gesetzt und fühlt sich in die Defensive gedrängt. So mahnte der türkische Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer die Ernennung eines Chefunterhändlers an.

Luxemburgs Europa-Minister Nicolas Schmidt und der EU-Botschafter in Ankara, der deutsche Diplomat Hansjörg Kretschmer, kritisierten die mangelnden Fortschritte und zogen damit den Zorn der türkischen Regierung auf sich. Die EU solle erstmal selbst ihre Pflichten erfüllen, ließ Außenminister Gül ausrichten.

Begrenzte Reformbereitschaft

Dass diese Streitigkeiten Indiz genug dafür sind, dass der Türkei der Reformwille abgekommen ist, hält Professor Udo Steinbach, Direktor des Deutschen Orient-Instituts, Hamburg, jedoch für übertrieben. Da werde auch in den Medien etwas Wind gemacht, meint der Türkei-Experte.

Der Druck, auf den 17. Dezember hin, viele Reformvorhaben auf den Weg zu bringen, sei sehr groß gewesen, sagt Steinbach, der die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen befürwortet. Das generelle Interesse der Regierung an den EU-Beitrittsverhandlungen sei nun aber nicht zwangsläufig abgeflaut, es stünde nur einfach wieder der politische Alltag und damit die innenpolitischen Probleme im Vordergrund.

Konfliktfall Zypern

Unbestritten ist, dass die Türkei noch jede Menge Hausaufgaben zu erledigen hat. So drängt die EU-Kommission die Türkei zur raschen Ausdehnung der Zollunion auf die zehn neuen Mitgliedstaaten - darunter auch Zypern.

Ursprünglich sollte Ankara dies bis Ende Februar erledigt haben, doch für Erdogan ist die Unterschrift unter dem so genannten Ankara-Protokoll äußerst delikat. Denn sie könnte als Anerkennung Zyperns interpretiert werden, was wiederum zu innenpolitischen Schwierigkeiten führen könnte. Auf der anderen Seite hat die EU unmissverständlich klar gemacht: Keine Unterschrift - keine Beitrittsverhandlungen im Oktober.

Sorgen bereitet auch die Menschenrechtssituation. Hier hat der EU-Botschafter Kretschmer auf besorgniserregende Rückschritte hingewiesen. So sollen regierungskritische Autoren wieder verstärkt verfolgt worden sein.

Nicht zuletzt liegt die Türkei mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) im Clinch. Im Dezember letzten Jahres hatte sich der IWF auf ein dreijähriges Hilfsprogramm im Wert von mehr als zehn Milliarden Euro eingelassen. Die vom Fonds im Gegenzug geforderten Wirtschaftsreformen lassen jedoch noch auf sich warten.

Wichtige Kontaktaufnahme

Angesichts der angespannten Situation sei der anstehende Besuch der EU-Delegation eine wichtige Kontaktaufnahme, glaubt Türkei-Experte Steinbach. Mit Blick auf Aufnahme der Beitrittsverhandlungen müsste zunächst das Zypernproblem in Angriff genommen werden, so Steinbach. Da lägen die Verantwortlichkeiten jedoch nicht nur bei der Türkei, sondern auch auf der griechischen Seite.

Die Forderungen des IWFs sowie die Menschenrechtsproblematik stünden dagegen nicht unmittelbar im Zusammenhang mit den Beitrittsverhandlungen, meint Steinbach. Dennoch müsste die Menschenrechtssituation natürlich genau beobachtet werden.

Man sollte zudem nicht vergessen, dass auch die Europäische Union noch Hausaufgaben zu erledigen hat, erinnerte der Türkei-Experte. So stünden für den nördlichen Teil Zyperns noch EU-Finanzspritzen aus.

Samira Lazarovic

© DEUTSCHE WELLE/DW-WORLD.DE 2005

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