Raus aus der Opferrolle
Am Töten von Unschuldigen und friedlichen Zivilisten kann nichts Gutes sein. Allenfalls im Fall Frankreichs könnte es anders sein. Nicht weil vernünftige Menschen etwas gut daran finden könnten, dass Leben ausgelöscht werden, sondern weil nun ein Konsens darüber entstehen könnte, dass man Leute in ihre Grenzen weisen muss, die im Namen der Religion abscheulichste Verbrechen begehen.
Mit dem Aufzeigen von Grenzen soll nicht nur das gemeint sein, was Regierungen, Militär, internationale Allianzen und Geheimdienste erreichen können, sondern auch, was die Allgemeinheit tun könnte, um Salafisten, Dschihadisten und anderen Strömungen des politischen Islam den Rückhalt zu entziehen. Denn deren Diskurs geht scheinbar fließend über in Aufforderungen zum Entführen und Morden. Und ihre ideologischen Quellen bestehen aus ein und derselben dschihadistischen Theologie.
In einer jüngst in arabischen Ländern durchgeführten Umfrage zum "Islamischen Staat" gaben 15 Prozent der Befragten an, dass die "militärischen Erfolge" der wichtigste Faktor für die Popularität der Terrormiliz sei, während 14 Prozent meinten, es sei die Ausrufung eines Kalifats gewesen. Auftraggeber der Umfrage war das "Arabische Zentrum für politische Studien" in Doha, das die Ergebnisse im vergangenen November vorgelegt hatte.
Vom Opferdasein zum Dschihad
Und womöglich empfinden einige islamistische Sympathisanten angesichts der terroristischen Anschläge in Frankreich Genugtuung, da sie sich schon lange in einen Diskurs des Opferdaseins geflüchtet haben.
Bei diesem weltweit von Islamisten bedienten Diskurs einer angeblich systematischen Verfolgung von Muslimen geht es nicht darum, dass man den berechtigten gesellschaftlichen Forderungen der Muslime, die nach islamistischer Lesart im "Land des Unglaubens" leben, nachkommt, sondern vielmehr den "Dschihad" auf jene Länder auszuweiten, die noch nicht in den Genuss der Herrschaft der göttlichen Scharia gekommen sind und somit noch im Zustand der vorislamischen "Dschahiliya" (Unwissenheit) verharren.
Der islamistische Vordenker Sayyid Qutb hat dies alles schon vor über 50 Jahren in seinem Buch "Wegzeichen" dargelegt, wo er zudem schrieb, dass die Menschen "Diener Gottes allein" seien, es "keine Herrschaft außer der Gottes, kein Gesetz als das Gottes" geben dürfe und kein Mensch Macht über einen anderen ausüben könne.
Die in den "ungläubigen" Gesellschaften lebenden Muslime sollten sich aber nicht wundern, wenn ihr Spielraum eingeschränkt wird, die Abneigung gegen sie und gegen den Islam zunimmt, sie ausgegrenzt oder ihre Moscheen angezündet werden. Denn der Begriff "Muslim" wird so lange mit Brutalität und Barbarei gleichgesetzt werden, wie die dortigen Muslime nicht zu einer gemeinsamen Sprache finden und als eine Gruppe zusammenstehen, die zwar ihre Religiosität schützt, aber auch ein positives Bild ihrer Religion nach außen vermittelt.
Der Westen und die Welt erkennen dieses Positive schon lange nicht mehr, so sehr haben die, die im Namen des Islam sprechen, diesen in Blut getränkt, Gewalt geübt und den gesellschaftlichen Frieden gefährdet.
Das Töten im Namen der Religion erfolgt nicht in einem Vakuum, und seine Protagonisten agieren nicht ohne Rückhalt in der Bevölkerung. Sie werden psychologisch, finanziell und logistisch von Muslimen im Nahen Osten und im Westen unterstützt, die, weil man sie religiös nicht in vernünftiger Weise anleitet und weil sie unter dem Druck persönlich und kollektiv empfundenen Schmerzes stehen, nicht begreifen, dass jene dschihadistischen Gruppen, die vorgeblich "Rache für sie" üben, schon sehr bald "Rache an ihnen" nehmen werden.
Tickende Zeitbomben
Kein Land ist mehr sicher vor der blinden, willkürlichen und barbarischen Mordmaschine, gerade angesichts des immer öfter in Anspruch genommenen "individuellen Dschihad", durch den aus streng religiösen Muslimen in aller Welt Zeitbomben werden können.
Der Dschihad, den die Militanten im Munde führen, ist gemäß den Vorschriften und Einschränkungen der Scharia eigentlich nur der "kleine Dschihad". Der "große Dschihad" ist dagegen der Kampf mit der eigenen Person, die Reinigung der Seele und die Vermeidung von Untaten. Dazu gehört, nicht ins Töten anderer Menschen abzugleiten – jener Menschen, die Gott zu seinen Stellvertretern auf Erden bestimmt hat, auf dass sie diese aufbauen und gerecht gestalten.
Aber solange alle religiösen und moralischen Maßstäbe außer Kraft gesetzt sind, Vernunft fehlt, der Pöbel das Sagen hat und jede Strategie der Weisheit versagt, sind alle Voraussetzungen für einen Religionskrieg gegeben. Denen, die aus den Höhlen der Vergangenheit hervorkriechen, ist es gleich, wenn die Welt in Flammen steht. Für sie ist das Diesseits nur das Vergängliche, ein Ort der Eitelkeiten.
Eine andere, ewige Welt erwartet sie, und ihr Märtyrertod ist für sie nichts anderes als ein Passierschein in ebenjene Welt, die die religiöse Literatur mit aller Fantasie als einen Ort unwiderstehlichen Zaubers ausschmückt. Und der Dschihad, so sagt man ihnen, bedeute den direktesten Eintritt in jene Welt des Glücks.
Mussa Barhoma
© Qantara.de 2015
Aus dem Arabischen von Günther Orth