Der IS bedroht dauerhaften Frieden am Hindukusch
Eigentlich schien Afghanistan in letzter Zeit etwas zur Ruhe zu kommen. Viele Taliban und auch die afghanischen nationalen Streitkräfte hielten sich de facto an eine Waffenruhe, die Ende Mai zum Id al-Fitr vereinbart worden war – zum Abschluss des Ramadan. Doch am 30. Mai explodierte in Kabul eine Straßenbombe, die einen Journalisten und den Fahrer eines afghanischen Fernsehsenders in den Tod riss. Zu dem Anschlag bekannte sich der afghanische Ableger des IS – der ISKP (Islamic State Khorasan Province).
Am 3. Juni folgte ein weiterer Anschlag, bei dem Mawlana Muhammad Ayaz Niazi getötet wurde. Der bekannte Geistliche war Prediger in der Wazir-Mohammad-Akbar-Khan-Moschee im Zentrum Kabuls. Wer die Urheber des Anschlags waren, blieb bislang im Dunkeln. Doch auch hier wird vermutet, dass der ISKP dahinter steckt, der auch nicht vor der Ermordung von Geistlichen zurückschreckt. Viele Beobachter in Afghanistan gehen davon aus, dass der ISKP mit den Angriffen die Bemühungen um einen dauerhaften Frieden in Afghanistan zu torpedieren versucht.
Zahlreiche äußerst brutale Angriffe in den letzten Wochen scheinen auf den ISKP zurückzugehen. Einer der blutigsten ereignete sich am 12. Mai. Mindestens 24 Trauergäste wurden bei einer Trauerfeier in der östlichen Provinz Nangarhar von der ISKP-Miliz ermordet. Am selben Tag fand in West-Kabul ein weiteres perfides Massaker statt. Als Sicherheitspersonal und Sanitäter verkleidete Bewaffnete griffen eine Entbindungsklinik der Organisation Ärzte ohne Grenzen an.
Vierundzwanzig Zivilisten wurden ermordet, Dutzende wurden verletzt. Darunter Frauen und Neugeborene. Zwar übernahm keine Terrorgruppe die Verantwortung, aber viele Beobachter vermuten den ISKP hinter dem Angriff, zumal das Attentat, wie andere von der ISKP begangene, auf schiitische Hazara abzielte. Einige Wochen zuvor griff der ISKP bereits einen Sikh-Tempel in der Altstadt von Kabul an und tötete 25 Mitglieder der afghanischen Sikh-Gemeinschaft.
"Franchise-Terrorismus" des IS
Während die Strukturen des "großen Bruders" des ISKP, nämlich des ISIS (Islamischer Staat im Irak und in Syrien), weitgehend bekannt ist, bleibt sein afghanischer Zweig seit dem ersten Auftreten im Jahr 2015 im Dunkeln. Zudem scheint es kaum eine Verbindung zwischen beiden Terrororganisationen zu geben. "Ich betrachte beide getrennt, vor allem wegen der geografischen Lage", sagt Thomas Ruttig, Vizedirektor der Nichtregierungsorganisation Afghanistan Analysts Network.
Nach Einschätzung von Ruttig agieren viele Milizionäre des afghanischen IS unabhängig voneinander, was Verhandlungen unmöglich machen könnte. "Sie müssen nicht miteinander interagieren. Sie können durchaus getrennt operieren und Angriffe unter demselben Banner deklarieren. Das ist die Grundidee des Franchise-Terrorismus des IS", so Ruttig.
Ruttig ist wie viele andere Beobachter des Afghanistankriegs der Ansicht, dass trotz eines von den USA entworfenen Plans für Friedensgespräche eine langfristige Stabilität unwahrscheinlich bleibt, solange es terroristische Gruppen wie den ISKP gibt.
Waheed Mozhdah, ein verstorbener afghanischer Politwissenschaftler und Schriftsteller, der als Kenner der islamistischen militanten Gruppen galt, sagte einst: "Der Krieg in Afghanistan wird sich abschwächen, aber der Konflikt und das Blutvergießen werden nicht verschwinden". Als Mozhdah im vergangenen November in Kabul einem Attentat zum Opfer fiel, bewahrheitete sich seine Analyse auf bittere Weise.
Rekrutieren aus Mittelschicht
Ein neuer Bericht des U.S. Institute of Peace weist darauf hin, dass der ISKP nicht nur in ländlichen, sondern auch in städtischen Gebieten Afghanistans den Boden für eine ideologische Radikalisierung bereitet. Selbst wenn es zu einem Friedensschluss zwischen der afghanischen Nationalregierung und den Taliban kommen sollte, ist es kaum wahrscheinlich, dass diese Radikalisierung ein Ende findet. Der Bericht von Borhan Osman, einem der führenden Experten für militante Gruppen in der Region, stellt fest, dass viele ISKP-Angehörige der gebildeten urbanen Mittelschicht entstammen, u. a. aus Kabul.
"Im Unterschied zu den ländlichen Mitgliedern, die oft in Ermangelung normaler Berufsaussichten in das dschihadistische Geschäft einsteigen, kommt eine maßgebliche Zahl der ISKP-Mitglieder aus den zentralen städtischen Gebieten (aus Kabul und den umliegenden städtischen Zentren der Provinzen Parwan, Kapisa und Pandschschir). Sie entstammen Familien, die man der "Mittelklasse" zuordnen kann", so Osman. Viele sind Nicht-Paschtunen, die sich in den Hochschulen radikalisiert haben.
"Was die Bildung betrifft, verfügt etwa ein Drittel der befragten ISKP-Mitglieder über eine bemerkenswerte akademische Bilanz", schreibt er. Neben mehreren Universitätsprofessoren, die Mitglieder für den ISKP angeworben haben, setzt sich die Kabuler Zelle des ISKP aus vielen Jahrgangsbesten und Ehemaligen zusammen. Eine beträchtliche Anzahl der Jahrgangsbesten stammt aus der Scharia-Fakultät. Andere besuchten Fakultäten für Recht, Chemie, Ingenieurwesen und Literatur, oft an staatlichen Hochschulen. Drei Institutionen stellten die größte Zahl der Rekruten in den Reihen der ISKP: die Universität Kabul, die Universität Nangarhar und die Universität Al-Biruni."
Teil der Taktik des ISKP ist es, Misstrauen zwischen den beiden Hauptkonfliktparteien zu säen: der Regierung und den Taliban. Nach dem infamen Angriff auf die Entbindungsstation im Mai gab die Regierung den Taliban die Schuld, obwohl sich niemand zu dem Anschlag bekannte. Schon damals vermuteten Fachleute wie Ruttig, dass die ISKP hinter dem Anschlag steckte. "Der Anschlag trägt ganz offensichtlich die Handschrift des ISKP. Dass die Taliban den Angriff durchgeführt haben, ergibt keinen Sinn", meint Ruttig.
"Die afghanische Regierung nutzt nach wie vor die Bedrohung durch den IS zu ihrem Vorteil. Dies wurde nach den jüngsten Angriffen deutlich, als die Regierung die Taliban für das Blutbad verantwortlich machte und neue Operationen gegen sie durchführte", sagte Zakir Jalaly, ein in Kabul ansässiger Politikwissenschaftler. Nach den Anschlägen in Kabul und Nangarhar wies die Regierung Ghani dem ISKP und den Taliban die Schuld zu. Die Taliban bestritten allerdings jegliche Beteiligung.
Stolperstein für die Verhandlungen
In der Tat gibt es laut Jalaly zahlreiche Belege dafür, dass die Taliban gegen den ISKP vorgingen und diesen auf dem Land zurückdrängten. Auch wird die Regierung in Kabul den ISKP kaum als Mitstreiter im politischen Kampf gegen die Taliban betrachten, die im Unterschied zum ISKP die größte und am besten organisierte gegnerische Gruppe im Land bilden.
Gegenwärtig arbeiten sowohl die Taliban als auch die Regierung an Verhandlungen, worauf auch die Freilassung von Gefangenen hindeutet. In einer Erklärung gaben die Taliban die Order an "alle Mudschahedin, besondere Vorbereitungsmaßnahmen für die Sicherheit unserer Landsleute zu treffen und den Feind nirgends anzugreifen".
Die Regierung von Präsident Ashraf Ghani begrüßte die Ankündigung, nahm den Waffenstillstand an und erklärte, sie werde in Kürze Hunderte von Taliban-Gefangenen freilassen. Gleichzeitig drängten Politiker und Bürgerrechtler immer stärker auf eine Verlängerung des Waffenstillstands und die Aufnahme innerafghanischer Gespräche.
Inoffiziell ist Ersteres bereits erfolgt. Doch bestehen weiterhin Zweifel an dem dauerhaft guten Willen beider Seiten, die sich seit zwei Jahrzehnten bekriegen. In den letzten Wochen erfolgten mehrere Angriffe, darunter Operationen gegen afghanische Sicherheitskräfte und mindestens ein Luftangriff seitens der Regierung, bei dem Zivilisten getötet wurden.
Sehr unterschiedliche Ideologien
In den letzten Monaten und Jahren berichteten sowohl die afghanische Regierung als auch die Taliban regelmäßig darüber, wie sie gegen den ISKP vorgingen, indem sie ganze Distrikte säuberten. Nach Angaben von Regierungsvertretern verhafteten Regierungskräfte einen Tag vor den Angriffen mehrere Schlüsselfiguren des ISKP in Kabul. Zwar sind auch einige ehemalige Taliban-Mitglieder dem ISKP beigetreten, aber die Taliban stehen mit der Terrorgruppe selbst in einem massiven Konflikt. Dieser ist in erster Linie auf ideologische Fragen zurückzuführen, die von Außenstehenden, die mit islamischer Polemik nicht vertraut sind, oft übersehen werden.
"Die ideologische Hürde zwischen den beiden Gruppen ist immer noch sehr hoch. Daher dürften Taliban-Kämpfer nach einem Friedensabkommen kaum zum IS überlaufen wollen", sagt Thomas Ruttig. Theologisch steht der IS für einen aus dem Ausland importierten salafistischen Extremismus. Die Taliban vermarkten sich dagegen als einheimische Söhne des Bodens, als Erben der tief verwurzelten, jahrhundertealten sunnitisch-hanafitischen Traditionen in Afghanistan.
Es gibt Beobachter, die glauben, der ISKP sei immer noch ein kleiner, unbedeutender Akteur. Dem steht die Tatsache entgegen, dass der ISKP bislang nicht ausgeschaltet werden konnte, obwohl seit 2015 angeblich mehr als 10.000 seiner Kämpfer getötet wurden – ob von den afghanischen Streitkräften, der US-Luftwaffe oder den Taliban. "Dies zeugt von einer unglaublichen Widerstandskraft, da sie weiterhin ständig neue Anhänger rekrutieren und ihre Arbeit fortsetzen können, während sie gleichzeitig derart hohe Verluste verkraften", sagt Andrew Watkins, bei der International Crisis Group als Senior Analyst für Afghanistan tätig.
Unbekannte Größe
Schätzungen gehen heute immer noch von Hunderten, vielleicht sogar von 1.000 oder mehr Mitgliedern aus. Allerdings gibt es Anlass zu Zweifeln an diesen offiziellen Zahlen, insbesondere an der Darstellung der afghanischen Regierung, die nach Ansicht vieler Beobachter ein undurchsichtiges, problematisches Verhältnis zum ISKP pflegt.
Einige Fachleute halten es für möglich, dass die Regierung die Existenz des ISKP dazu nutzen möchte, die Taliban für bestimmte Terroranschläge verantwortlich zu machen. Sie erinnern dabei an eine ähnliche strategische Beziehung wie die zwischen dem Assad-Regime und dem IS in Syrien. Andere wie Watkins meinen, solche Theorien seien lediglich "Verschwörungstheorien, die kaum ein Körnchen Wahrheit enthalten".
"Es ist nicht zu leugnen, dass sich die afghanische Regierung gegenüber ISKP-Kämpfern und -Kommandeuren zeitweise sehr seltsam verhielt. Sie wurden lebend festgenommen und in der Haft ungewöhnlich gut behandelt", sagt Watkins. "Doch jegliche Analogien zwischen den Beziehungen der afghanischen Regierung zum ISKP und des Assad-Regimes zum IS, liegen völlig daneben. Die afghanische Regierung hat erhebliche militärische Mittel für ihre Kampagne gegen den ISKP in Nangarhar aufgewendet. In den letzten fünf Jahren hat sie zeitweise sogar implizit Maßnahmen ergriffen, die den Taliban in den ländlichen Gebieten der Provinz klar zugutekommen könnten", betont Watkins.
Was den Friedensprozess anbelangt, so Watkins, mische sich die Terrorgruppe aus ideologischen Gründen ein. "Der ISKP ist unmittelbar nach dem Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban deutlich aktiver geworden. Sie prangern das Abkommen als Beweis dafür an, dass die Taliban die Kufr – also die Ungläubigen – seien, als die man sie stets gesehen habe. Vor Februar reklamierte die ISKP nicht einen einzigen Anschlag für sich. Doch in den Tagen vor der Unterzeichnung in Doha nahm die Terrorgruppe ihre Aktivitäten mit voller Gewalt wieder auf."
Emran Feroz
© Qantara.de 2020
Aus dem Englischen von Peter Lammers