Mit Heavy Metal gegen den Beirut Blues
Baghdadi hatte nicht vor, einen Film über die libanesische Politik zu machen. Die marokkanisch-amerikanische Regisseurin hört Punk und Hardcore und war auf der Suche nach neuer Musik. So stieß sie auf die libanesische Metal Band Slave to Sirens. "Ich war sehr beeindruckt – von ihrem Können, von ihrer Musik. Und von der toughen Attitüde der als "erste weibliche Metalband der arabischen Welt“ vermarkteten Band (ob das Label stimmt sei dahingestellt, Qantara berichtete schon 2011 über Massive Scar, eine ägyptische Frauen-Metalband, in der es allerdings auch männliche Mitglieder gab). Kurz nach Beginn der Revolution reist Baghdadi für die Filmarbeiten zu Sirens in den Libanon.
In erster Linie soll ihr Film die beiden Frontfrauen von Slave to Sirens porträtieren. Allerdings entsteht dieses Porträt dann vor dem Hintergrund der wohl größten Krise des Libanon seit der entgrenzten Gewalt im 15 Jahre dauernden Bürgerkrieg (1975-1990). Im Oktober 2018 beginnen Proteste gegen die Regierung, die bald zu einem groß angelegten Aufstand gegen das auf Klientelismus aufgebaute und entlang konfessioneller Herkunft organisierte libanesische politische System werden. Auf einer Demo haben sich auch die beiden Band-Gründerinnen kennengelernt, Sheri und Lilas. In der Menge haben sie sich sofort erkannt. "Zwischen uns herrschte von Anfang an eine besondere Chemie“, sagen die beiden im Film.
Der Aufstand der fünf jungen Frauen von Slave to Sirens begrenzt sich im Wesentlichen auf ihre Musik, ihren Style und ihre unabhängige Lebensführung. Ihr melodischer thrash metal dabei ist schon ausreichend, um viele Libanesen zu verschrecken. Denn diese Musik gilt nicht wenigen als verdächtig, gotteslästerlich oder gar satanisch – nicht anders als vor wenigen Jahrzehnten auch in Europa oder den USA, wo der Metal heute eher zum musikalischen Mainstream gehört.
Im Nahen Osten kann Heavy Metal noch schocken
Einen genialen Film, der wunderbar zeigt, wie leicht man mit Metal noch immer deutsche Dörfler verschrecken kann, hat 2006 die deutsch-koreanische Regisseurin Cho Sung-Hyung mit ihrem genialen Film Full Metal Village gezeigt. Die Doku blickt mit präzise ethnografischem Blick auf die Skurrilitäten der deutschen Provinz; "teilnehmende Beobachtung“ par excellence, die sonst eher exotisierten Protagonisten in der Ferne zuteil wird.
Rita Baghdadi ist von solchen ethnografischen Klischees allerdings Lichtjahre entfernt. "Mein Dad ist aus Marokko“, erzählt Baghdadi, "aber ich bin in Amerika aufgewachsen. Mit diesem Film wollte ich auch eine junge arabische Generation porträtieren, der ich mich sehr nahe fühle.“ Sirens wird so zur doppelten Suche: für die Protagonistinnen nach ihrem Platz im krisenbeladenen Libanon und für die Regisseurin nach ihrer Verbindung zu ihren Wurzeln in der arabischen Welt.
"Gerade in Lilas habe ich mich schon sehr wieder erkannt“, sagt Baghdadi. Die talentierte Gitarristin lebt in ihrem Elternhaus und arbeitet tagsüber als Musiklehrerin in einer Schule, wo sie versucht, den musikalischen Horizont ihrer Schüler zum Beispiel um die Beschäftigung mit Rap zu erweitern ("nein, nicht Justin Bieber – das ist kein Rapper!“). "Musik ist die einzige Möglichkeit für uns in diesem Land, uns wirklich auszudrücken und so zu sein, wie wir sein wollen“, sagt Lilas.
Lilas Mutter sieht den Weg der Tochter mit Sorge, lässt sie aber weitgehend gewähren. Sie ahnt, dass die Tochter anders tickt, in allen Dingen des Lebens – mit ihrer Musik, den Parties, auf die sie geht und mit ihrer Art zu lieben. Eine syrische Freundin, für die sie schwärmt, bringt sie mit nach Hause, aber ausgesprochen wird hier natürlich nichts. Ab und zu lässt Lilas’ Mutter, eine gestandene Frau, ihre aufgestauten Sorgen raus und drischt mit Wucht einen Tennisball gegen die Wand, immer wieder. Baghdadi hält das in einer großartigen Szene fest.
Anfeindungen und wenig Wertschätzung
Als zu Hause ein Beitrag über die libanesische Band "Mashrou Leila“ und eine Konzertabsage im Fernsehen läuft, wirft ihr die Mutter einen vielsagenden Blick zu. Aber sie sagt nichts. Die libanesische Indie-Rockband mit ihrem charismatischen Frontmann Hamed Sinno ist weit über den Libanon hinaus bekannt. Dass Sinno offen schwul lebt und die Band sich für die Rechte von LGBTIQ einsetzt, wird von der Fangemeinde der Band gefeiert, erfährt aber im Libanon erbitterten Widerstand. Drohungen und Angriffe vor allem seitens christlicher Radikaler hatten 2019 einen Auftritt beim renommierten Byblos-Festival verhindert.
Auch Slave to Sirens hat mit Anfeindungen zu kämpfen und erfährt im Land nur die Wertschätzung einer kleinen Szene. "Eure Musik wird hier nicht geschätzt. Wenn ihr Pop machen würdet, wärt ihr total erfolgreich“, meint Sheris Vater. Aber das war natürlich nie eine Option. Denn sich in irgendeiner Weise zu verbiegen, kommt nicht in Frage. Eine Einladung zum Festival nach Glastonbury weckt große Hoffnungen, aber die Show auf einer Nebenbühne wird nur von ein paar Dutzend Zuhörern besucht, die die Nacht durchgezecht haben und zu den Metal-Riffs nur müde wackeln.
Der Alltag der Musikerinnen ist vom Frust über die Lage im Land geprägt. Stromausfälle unterbrechen die Proben, die Banken geben kein Geld mehr aus. Auch zwischen den beiden Frontfrauen nehmen Spannungen und Eifersüchteleien zu. Sie sind auf der Suche nach Beziehungen und auf der Suche nach sich selbst. Der Streit eskaliert und stellt die Zukunft der Band in Frage. In der Schlussszene verschwinden die Musikerinnen in einem verlassenen Tunnel, Zukunft ungewiss.
Das gilt erst Recht für das ganze Land. Im August 2020 explodiert ein Depot mit hochexplosivem Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut. 200 Tote und Tausende Verletzte sind das Ergebnis. Das Land, das bereits am Rande des Zusammenbruchs stand, ist im Schockzustand. "In einer Coming-of-Age-Geschichte gibt es immer einen Moment, in dem die Unschuld verloren geht.“ Für die fünf Musikerinnen und ihr Land sei dies der Moment gewesen, in dem die ganz existentielle Krise kulminierte. Deswegen entschied sich Baghdadi, das Ereignis aufzunehmen, obwohl sie keinen politischen Film machen wollte. "Ich wollte um jeden Preis vermeiden, einen Film über alles Negative im Nahen Osten zu machen. Und die Musikerinnen nicht als Opfer der Ereignisse zeigen, sondern als Akteurinnen.“
Sie selbst sei im Amerika nach dem 11. September groß geworden. Die stereotype Darstellung von arabischen Menschen sei für sie als Teenagerin verstörend gewesen, auch die rassistischen Reaktionen, die sie ständig auf ihren Nachnamen erhielt. Mit Sirens ist ihr ein tolles Porträt der libanesischen Band gelungen, das solche Stereotype wie ein Metal-Riff wegspült.
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