Aufräumen mit westlichen Vorurteilen
Filmemacherinnen, die im Nahen Osten und in Nordafrika arbeiten und ihre Filme Ende November beim Internationalen Filmfestival Marrakesch zeigten (24.11.-02.12.2023) haben etwas zu feiern. Insgesamt betrachtet geht es ihnen nämlich gut - wenn es um die Bereiche Repräsentation und Geschlechtergerechtigkeit geht vielleicht sogar besser als ihren Kolleginnen in Europa und Nordamerika.
"Es ist kein Zufall, dass es immer mehr Filmemacherinnen in der Region gibt", sagte die französisch-tunesische Regisseurin Sonia Ben Slama der Deutschen Welle (DW) in Marrakesch. "Lange Zeit wurden Frauengeschichten von Männern erzählt. Es war notwendig, unsere Stimmen im Kino zurückzufordern".
Sonia Ben Slamas Dokumentarfilm "Machtat", der in Marrakesch gezeigt wurde, ist ein gutes Beispiel dafür. Fünf Jahre lang begleitete sie ein Frauentrio, das in Tunesien als Hochzeitssängerinnen arbeitet. Mit ihrem Film gewährt sie Einblicke in das turbulente Privat- und Berufsleben der Sängerinnen.
Auftrieb dank Streaming-Plattformen
Zunehmend sichtbar und erfolgreich werden arabische Filmemacherinnen unter anderem dank Streaming-Plattformen. Netflix etwa hat seine Ausgaben für regionale arabischsprachige Inhalte erhöht. Filmemacherinnen bekommen dadurch finanzielle Unterstützung und eine breite Plattform für ihre Arbeit.
Das alles geschieht in einer Zeit, in der die Zahl der Abonnentinnen und Abonnenten von On-Demand-Streaming-Diensten im Nahen Osten und Nordafrika von rund fünf Millionen im Jahr 2017 auf 21 Millionen im Jahr 2022 gestiegen ist.
Arabische Filmproduktionen laufen inzwischen regelmäßig bei den größten Filmfestivals der Welt - Cannes, Venedig, Berlin, Sundance. Zudem sind europäische Koproduktionen üblich. Darüber hinaus bemühen sich viele Filmfestivals sowie die dazugehörigen Produktionsplattformen im Nahen Osten um Gleichberechtigung. Viele haben sogar Quoten für von Frauen geführte Produktionen.
Das Cairo Film Festival war 2019 das erste arabische Filmfestival, das eine internationale Charta für Geschlechterparität bei solchen Veranstaltungen unterzeichnete. Das Doha Film Institute in Katar hat regelmäßig fast die Hälfte aller Produktionsstipendien an Frauen vergeben. Und vergangene Woche in Marrakesch befanden sich unter den 25 internationalen Produktionsteams, die für ein Mentoring ausgewählt wurden, 11 Regisseurinnen und 12 Produzentinnen.
"In Marokko, Tunesien und dem Libanon sind etwa 25 Prozent der Newcomer-Regisseure weiblich. Und in Katar sind fast 60 Prozent der aufstrebenden Filmschaffenden Frauen", erklärte Fatma Hassan al-Remaihi, Leiterin des Doha Film Institutes, in einem Beitrag für das Wilson Center (einer in Washington ansässigen Denkfabrik) im Jahr 2019.
Im Vergleich dazu lag der Anteil der Filmregisseurinnen in den USA nach den neuesten Daten von Statista im Jahr 2022 bei nur 15 Prozent. Der umsatzstärkste arabischsprachige Film aller Zeiten - der Oscar-nominierte "Capernaum - Stadt der Hoffnung" (2018) - wurde von einer Frau, der libanesischen Filmemacherin Nadine Labaki, gedreht.
Westliche Vorurteile widerlegt
Doch auch wenn all dies stattfindet, sehen sich arabische Filmemacherinnen mit einigen unerwarteten Herausforderungen konfrontiert: Ob in Europa oder der arabischen Welt - das Publikum hat bestimmte Erwartungen an ihre Arbeit.
"In den vergangenen zwei Jahrzehnten hielten sich die kommerziell erfolgreichsten arabischen Filme in Europa eng an bestimmte Formeln: Geschichten über Terrorismus, Armut und Frauenunterdrückung", schrieb der ägyptische Filmkritiker und Festivalkurator Joseph Fahim in einer 2020 erschienenen Rezension des arabischen Kinos für das European Institute of the Mediterranean (IEMed). "Mit anderen Worten: Filme, die die Wahrnehmungen und Vorurteile des westlichen Publikums gegenüber der arabischen Welt bestätigen, anstatt sie zu widerlegen."
Bei Testvorführungen von "Machtat", erinnert sich Sonia Ben Slama, seien die Zuschauenden sehr überrascht vom Verhalten der Frauen in ihrem Dokumentarfilm gewesen. "Ich hatte das Gefühl, sie warteten darauf, dass die Frauen gute Mütter oder Opfer waren oder anderen Stereotypen entsprachen", erklärte sie.
"Aber sie waren vielschichtiger als das. Sie reagieren vielleicht nicht so, wie wir es von ihnen erwarten. Und das ist wichtig - denn es zeigt ihre Komplexität, ihre Menschlichkeit." Und genau dann spiele es auch keine Rolle, ob die Geschichte in Tunesien oder Europa angesiedelt ist - denn jede und jeder könne sich damit identifizieren, so die Regisseurin.
Die besten Geschichten sind "universell"
"Es geht darum, Filme zu machen, die eine universelle Anziehungskraft haben", bestätigt die französisch-marokkanische Regisseurin Sofia Alaoui. Sie präsentierte ihr Spielfilmdebüt "Animalia" ebenfalls auf dem Filmfestival von Marrakesch. Der Film ist durchaus ungewöhnlich: ein Science-Fiction-Thriller mit einer jungen schwangeren Frau und ihrer wohlhabenden Familie, psychedelischen Außerirdischen, stoischen Landbewohnern, der atemberaubenden marokkanischen Landschaft und einer Gruppe von Vögeln, Hunden und Schafen, die sich alle sehr schlecht benehmen.
"Eigentlich hat mich das arabische Kino nie wirklich inspiriert", so Alaoui. "Meine Lieblingsfilme waren eher asiatisch oder dänisch oder sie kamen aus Finnland. Ich versuche also, das Kino, das ich liebe, auf eine arabische Art und Weise zu zeigen." Auch Alaoui stieß auf die Vorurteile des Publikums: "Einige Leute kritisierten den Film", sagte sie, "weil er sich nicht so sehr auf die marokkanische Landschaft oder die Dorfbewohner konzentrierte wie meine früheren Kurzfilme." Es sei fast so, als ob manche - vor allem europäische - Zuschauer lieber eine exotische oder fast fetischisierte Version der Araberinnen und Araber auf der Leinwand sehen wollen.
Frauen im marokkanischem Film: Ausdruck der Vielfalt
"Wir sind vielfältiger als ihr denkt"
Und das kann ein Problem sein, bestätigt Tania El Khoury, die Produzentin von Sonia Ben Slamas Film "Machtat". Filme unter arabischer Regie laufen gut in Programmkinos oder auf Festivals. Doch es ist schwieriger, einen breiteren Vertrieb zu finden - vor allem dann, wenn ein Regisseur oder eine Regisseurin ein Thema behandelt, das dem arabischen Publikum unangenehm ist und die europäischen Zuschauer überrascht.
"Ich habe erlebt, dass Regisseurinnen vom europäischen Publikum kritisiert wurden, weil sie Geschichten über Frauen erzählten, die frei und unabhängig waren und sich von dem unterschieden, was das Publikum von Filmschaffenden aus dem Nahen Osten erwartet", so El Khoury.
"Die marokkanische Filmindustrie ist sehr dynamisch und wir wollen lokale Geschichten erzählen", fügte die marokkanische Regisseurin Asmae El Moudir hinzu, die ihren Film "The Mother of All Lies" ("Die Mutter aller Lügen") vorstellte. Ihr einzigartiger Dokumentarfilm ist Marokkos Kandidat für die diesjährige Oscar-Verleihung und gewann bereits in Cannes mehrere Preise. "Viele von uns sind Freunde. Aber wir sind auch sehr unterschiedliche Menschen und haben unterschiedliche Arbeitsweisen. Das sollte man akzeptieren."
"Manchmal denke ich, die europäische Filmindustrie bevormundet uns", so Sofia Alaoui. "Wissen Sie, hier ist ein Filmfestival, hier ist etwas Vielfalt [aus dem Nahen Osten], hier sind die gleichen Geschichten über Emanzipation. Ich finde das so langweilig. Aber es gibt jetzt so viel mehr von uns [in der Branche]. Es gibt so viel mehr Möglichkeiten, so viele Regisseurinnen und Regisseure. Und die Welt sollte akzeptieren, dass wir viel vielfältiger sind, als sie denkt."
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Adaption aus dem Englischen: Nikolas Fischer