Endstation Lesbos
An der Nordspitze von Lesbos treibt der Wind das Meer den Strand hinauf. Bisweilen spritzen die Wellen sogar bis auf die Straße, über den Bergen hängen schwere Regenwolken, und in der Ferne verschwimmt die türkische Küste im Dunst.
Der Strand ist verlassen, aufgeräumt, nichts erinnert mehr an die dramatischen Szenen, die sich hier zum Höhepunkt der Flüchtlingskrise im Oktober 2015 abgespielt haben, als im Schnitt täglich 5.000 Flüchtlinge auf der griechischen Ägäis-Insel landeten. Mittlerweile kommen kaum noch Flüchtlinge auf die Insel.
Vor einem Jahr, am 18. März 2016, trat das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei in Kraft. Pünktlich zum Jubiläum hat Ankara angekündigt, es werde keine Flüchtlinge mehr zurücknehmen. Dies erklärte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu in einem Interview mit dem Fernsehsender "24 TV".
Bis jetzt scheint sich diese Ankündigung auf den Alltag in Lesbos noch nicht ausgewirkt zu haben. In den Gassen des kleinen Fischerortes Molivos, der nur gut zehn Kilometer von der türkischen Küste entfernt liegt, ist von Flüchtlingen keine Spur. Nur an der Kaimauer hat ein Schiff der griechischen Küstenwache festgemacht. Neben dem Hafen liegt ein zerfetztes Schlauchboot auf den Felsen, einige Schwimmwesten treiben im Wasser, daneben hängt der Außenbordmotor im flachen Wasser.
Sackgasse Lesbos
"Seit dem Flüchtlingsdeal haben sich die Routen verlagert, viele wählen wieder die gefährlichere Route über Libyen", sagt Achilleas Tzemos von "Ärzte ohne Grenzen" (MSF) bei einem Treffen in einem Café am Hafen von Mytilini, der Inselhauptstadt. Seine Organisation, die in der Nähe eine Klinik für Flüchtlinge betreibt, hatte heftig gegen die Vereinbarung mit der Türkei protestiert. Aus ihrer Sicht halten strengere Kontrollen Flüchtlinge niemals auf, sondern zwingen sie nur, gefährlichere Routen zu wählen.
Doch wie immer man den EU-Flüchtlingsdeal mit der Türkei bewertet, ist unzweifelhaft, dass er dazu geführt hat, dass die Zahl der Neuankömmlinge auf den griechischen Ägäis-Inseln stark zurückgegangen ist. Auch wenn die Türkei keine abgelehnten Asylbewerber mehr zurücknimmt - noch sorgt Ankara dafür, dass nur vereinzelt Boote nach Griechenland gelangen. Die Lebensumstände auf den Inseln tun ein Übriges tun, um die Flüchtlinge abzuschrecken.
Die Zeiten, in denen Flüchtlinge von Lesbos aus auf die nächste Fähre nach Athen steigen konnten, um von dort über die Balkanroute weiter nach Nord- und Mitteleuropa zu reisen, sind lange vorbei. Seit dem Flüchtlingsabkommen sitzen sie auf den Inseln fest, solange die griechischen Behörden nicht über ihre Asylanträge entschieden haben. Erhalten sie Asyl, dürfen sie aufs griechische Festland (aber nicht weiter nach Deutschland oder ein anderes EU-Land ihrer Wahl). Im Falle einer Ablehnung wurden sie bisher in die Türkei zurückgeschickt.
Weil die Asylverfahren sich über viele Monate hinziehen, sind seit Abschluss des Flüchtlingsdeals vor einem Jahr nur wenige hundert Flüchtlinge in die Türkei zurückgebracht worden. In der Zwischenzeit sind die Flüchtlinge gefangen auf Lesbos, wo die meisten im zentralen Aufnahmelager Moria leben müssen, unweit der Inselhauptstadt Mytilini. Das Lager liegt in einem idyllischen Tal inmitten von Olivenhainen, doch mutet es weniger wie ein Heim für Flüchtlinge als wie eine Strafkolonie an.
Hinter Stacheldraht
VierReihen von Zäunen gekrönt von scharfem Stacheldraht umgeben das Lager. Am Eingang gibt es strenge Kontrollen, an den Ecken stehen Wachtürme, vor dem Lager lehnen Polizisten in Kampfmontur an einem vergitterten Bus. Journalisten kommen in das Lager nicht hinein, doch vor dem Eingang haben sich einige improvisierte Cafés angesiedelt, unter deren Zeltplanen die Flüchtlinge bei einem Tee für eine Weile der Tristesse ihrer Zelte und Wohncontainer entkommen können.
Auch Mohammed sitzt hier mit einem Freund und spielt auf seinem Handy. Der junge kurdische Syrer war 2013 aus Afrin im Nordosten Syriens geflohen, schlug sich dann vier Jahre in Istanbul im Textilsektor durch, bevor er sich entschloss, den Weg über Griechenland nach Deutschland zu wagen, wo er viele Angehörige hat. Doch seit fünf Monaten sitzt er nun in Moria fest, und dass er in zehn Tagen zurück in die Türkei deportiert werden soll, schreckt ihn nicht mehr. Alles ist besser als diese Warterei.
"Die Ungewissheit macht den Leuten zu schaffen", sagt Tzemos von "Ärzte ohne Grenzen". "Nicht zu wissen, wie lange sie noch warten müssen und was mit ihnen geschieht, bereitet ihnen großen Stress." Die Asylverfahren ziehen sich lange hin. Manche warten schon seit acht Monaten in Moria auf eine Entscheidung und wissen noch immer nicht, was kommt. Viele Flüchtlinge verstehen die rechtlichen Prozesse nicht, fühlen sich den Behörden hilflos ausgeliefert und kennen auch ihre Rechte nicht.
Um den Flüchtlingen wenigstens eine rechtliche Erstberatung zu geben, hat Cord Brügmann vergangenes Jahr das Projekt "European Lawyers in Lesbos" (ELIL) ins Leben gerufen. Der Geschäftsführer des Deutschen Anwaltsvereins war zum Höhepunkt der Flüchtlingskrise selber als freiwilliger Helfer auf Lesbos und suchte nach einer Möglichkeit, seine Fähigkeiten als Anwalt einzusetzen. In dem Projekt beraten Anwälte aus ganz Europa auf freiwilliger Basis die Flüchtlinge und klären sie über ihre Recht auf.
"Erstberatung ist essenziell, da am Anfang des Asylverfahrens viele Weichenstellungen gestellt werden, die später nicht mehr revidiert werden können", sagt Brügmann bei einem Gespräch im Büro des Anwaltsprojekts am Hafen von Mytilini. Viele Flüchtlinge würden gar nicht wissen, worauf es im Asylverfahren ankommt. Doch die langen Wartezeiten können die Anwälte ebenso wenig ändern wie das Grundproblem: Dass die Flüchtlinge Asyl in einem Land beantragen müssen, in dem die meisten gar nicht leben wollen.
Ulrich von Schwerin
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