Menschlichkeit inmitten des Terrors
Als er seinen Freund und Kollegen nach der Haft zu Gesicht bekam, war für Mansour al-Rajab klar: Es ist an der Zeit zu fliehen. Wenn der 50-jährige Arzt von den Gräueltaten des syrischen Bürgerkriegs berichtet, bleibt er sachlich, unkonkret. Als gehöre es nicht hierher, in die heile Welt seines Exils, dass sein Freund abwechselnd von Soldaten geprügelt wurde, bevor er sich wieder in die Wanne mit seinen eigenen Exkrementen legen musste – vierzig Tage lang.
"Als er mich sah, brach er in Tränen aus", sagt Rajab im schummrigen Licht einer Prager Kneipe. Das Militär habe auch nach ihm gefragt. "Zu wissen, dass man persönlich verfolgt wird, ist viel schlimmer als Granaten oder Bomben", sagt der Arzt mit den graublauen Augen. Das Leben würde zur Hölle, jedes Auto im Rückspiegel schüre die Angst, in die Falle zu tappen.
Behandlung über Facebook
Rajab hatte alles gut vorbereitet. Eine Schmugglerbande brachte ihn über die Grenze nach Libanon. Sein Pass, in dem er einen offiziellen Stempel für die Ausreise nach Tschechien brauchte, ging einen anderen Weg nach Beirut.
In den achtziger Jahren hatte er an der Prager Karlsuniversität Medizin studiert, seine Mutter stammt aus Tschechien. Über einstige Studienkollegen konnte er sich eine Stelle als Hals-Nasen-Ohren-Arzt in Mladá Boleslav, unweit der tschechischen Hauptstadt sichern. Mansour al-Rajab fühlt sich wohl hier. Er kann sich beruflich weiterentwickeln, verdient Geld. Er ist unter Freunden.
Abends aber ist er bei seinen Landsleuten und bei seiner Familie, die in Jordanien Unterschlupf finden konnte. Fast täglich telefoniert er mit seinen drei Töchtern. Ärzte in seiner Heimatstadt schicken ihm oft Fotos von Verletzten. Mit den Kollegen in der tschechischen Klinik berät er sich dann, gibt per Facebook Tipps für Eingriffe und Behandlungen.
Wenn man Mansour al-Rajab in der Nähe seiner Wohnung in einer Prager Plattenbausiedlung trifft, fällt er nicht weiter auf unter all den anderen, die schnellen Schrittes durch den kalten Wind zwischen den grauen Häuserzeilen huschen. Auch seinem Tschechisch merkt man erst nach einer Weile die harten arabischen Konsonanten an. Manchmal muss er auf ein englisches Wort ausweichen.
Nachdem er am Tisch in der dunklen Sportsbar seine dicke Daunenjacke abgelegt und einen Schwarztee bestellt hat, setzt er seine Brille mit den dünnen Rändern ab und lässt sie an dem Band um seinen Hals baumeln. Er fängt an zu erzählen. Vom Leben in seiner Heimatstadt Homs.
Davon, wie er auf der Fahrt in seine Klinik täglich von Scharfschützen beschossen wurde, wie er einem Mann beide Beine amputieren musste, nachdem dieser drei Tage gefoltert wurde. Erst jetzt lässt ein Schauer auf der Haut seines Zuhörers erahnen, aus welcher Welt Rajab vor nicht einmal vier Monaten geflohen ist.
Flucht auf Etappen
Sechs Jahre hat er gebraucht, um seine Klinik aufzubauen – eine von zwei Krankenhäusern im Land mit einem Linearbeschleuniger für Strahlentherapie. Nachdem die ersten Proteste gegen den Präsidenten Baschar al-Assad in der Stadt Dar'a im März 2011 blutig niedergeschlagen wurden, entwickelte sich Rajabs Heimatstadt Homs schnell zu einer Hochburg der Rebellen. Seine Klinik wurde zum Feldlazarett.
Weil sie sich in Jouret El Shaiah – einem Viertel, das als oppositionell galt – befand, machten es die Militärs der Regierung an einem Samstag Anfang Juni mit Granatwerfern dem Erdboden gleich. So wie die Hälfte der drittgrößten Stadt Syriens. "Wir haben etwa eine halbe Million Flüchtlinge, die von Homs nach Homs geflohen sind", erklärt Rajab. Die Leute würden die humanitäre Katastrophe nur dank der überwältigenden Solidarität innerhalb der Bevölkerung überleben, sagt er.
Mit seinem Team floh er nach Damaskus und übernahm das Krankenhaus seines Schwagers, der nach Jordanien ausgereist war. Dann wurde sein Kollege entführt und Rajab begann, seine eigene Flucht nach Prag vorzubereiten.
Gleiches Maß
"Mein Herz", sagt der Tschecho-Syrer, "ist bei der Revolution." Bereits 1989 hatte er eine miterlebt, aus nächster Nähe: Die "Samtene Revolution", die das damalige totalitäre Regime der Tschechoslowakei mit friedlichen Mitteln zu Fall brachte.
"Bis dahin habe ich geglaubt, dass sich die Tschechen nicht für Politik interessieren, dass sie zufrieden sind, solange sie abends auf ein Bier in die Kneipe können", erinnert er sich.
Es war sein tschechischer Freund und heutiger Oberarzt, der Rajab auf die großen Demonstrationen nach Prag mitgenommen hatte, wo Hunderttausende mit ihren Schlüsselbunden das Ende des Kommunismus einläuteten. Damals habe der junge syrische Arzt verstanden, welche Kraft in unterdrückten Menschen schlummere.
Das gleiche Gefühl habe der Krieg in seiner Heimat in ihm geweckt. Erst als er in seinem Krankenhaus in Homs die Verletzten behandelte, als er sechs Monate mit seinem gesamten Team dort Tag und Nacht verbrachte, habe er die Menschlichkeit seiner Mitbürger kennengelernt. "Wir konnten gar nicht so viel Blut aufnehmen, wie die Leute spenden wollten", lächelt Rajab. Er hat Sehnsucht nach seinem Feldlazarett.
Was er sich wünsche? Dass die freie Welt die Leben seiner Landsleute mit dem gleichen Maß misst wie alle anderen. Noch nie habe ein Diktator sein eigenes Volk derart abgeschlachtet. 200 Tote täglich.
"Wir brauchen keinen Zucker, wir brauchen kein Mehl – was wir brauchen ist ein Ende der Gewalt", appelliert Rajab. Dass der Diktator Assad falle, sei für ihn nur eine Frage der Zeit. Es läge in den Händen der Weltgemeinschaft, wie viele Menschenleben bis dahin noch fallen müssten.
Martin Nejezchleba
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de