In Erinnerung an algerische Freiheitskämpferinnen
Algériennes (dt. Algerierinnen) handelt vor allem von den Frauen im algerischen Unabhängigkeitskrieg, wie der Titel bereits nahelegt. Viel ist bereits publiziert worden über Frauen, die die Hauptlast des Leids an der Heimatfront trugen oder während des Krieges Opfer von Missbrauch wurden. Geschichten von Frauen, die aktiv am Befreiungskampf beteiligt waren, sind allerdings rar. Dass die in der Graphic Novel erzählten Geschichten wahr sind oder zumindest auf den Erfahrungen realer Menschen beruhen, macht die Sache noch spannender.
Zunächst machen wir Bekanntschaft mit Beatrice, der Tochter eines Mannes, der im Algerienkrieg in der französischen Armee diente. Eines Tages stößt sie auf einen Zeitungsartikel über diesen Krieg, der sie aufrüttelt. Darin heißt es unter anderem, es gebe einen festen Begriff für die Kinder von Soldaten in der französischen Armee in Algerien, die sogenannten "enfants d‘appelés“. Als sie mit ihrem Vater über den Krieg sprechen möchte, weist dieser sie ab.
Eine Entdeckungsreise
Anders ihre Mutter: Sie erzählt Bruchstücke von ihrer Zeit in Algerien, unter anderem, dass sie fast Opfer eines Bombenanschlags wurde, als sie mit Beatrice‘ Schwester im Kinderwagen unterwegs war. Falls sie mehr wissen wolle, solle sie sich an eine algerische Freundin wenden. So beginnt Beatrice' langer Weg auf der Suche nach der Wahrheit über den Algerienkrieg.
Die Freundin der Mutter entpuppt sich als eine jener Algerierinnen, die auf der Seite der Franzosen standen und nach der Unabhängigkeit Algeriens das Land verlassen und Heimat und ihr altes Leben zurücklassen mussten.
Beatrice Vater hatte ursprünglich für die Aufständischen gekämpft. Als eine rivalisierende Gruppe den Bruder ihres Vaters enthauptete, wurde ihr Vater zu einem Harkis – also zu einem Unterstützer Frankreichs im Algerienkrieg. Die Familie wurde nach dem Krieg zum Schutz vor Vergeltungsmaßnahmen nach Frankreich gebracht.
Als Beatrice die Geschichte ihrer Mutter hört, fasst sie den Entschluss, selbst nach Algerien zu reisen und mehr herauszufinden. Über eine Zufallsbegegnung mit einer Frau am Märtyrer-Denkmal in Algier, das an die Gefallenen des Unabhängigkeitskrieges erinnert, kommt Beatrice in Kontakt mit einer Vielzahl von Frauen, die den Konflikt miterlebt haben.
Als erstes trifft sie eine ehemalige Freiheitskämpferin (algerisch Mujahida), die an der Seite der Männer kämpfte. Diese Frau nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um die sogenannten "Helden der Revolution“ geht. Zunächst erzählt sie, wie sie und andere sich schon während ihrer Jugend als Reaktion auf den Rassismus der französischen Kolonialherren radikalisierten.
Aber erst nachdem ihr Vater von den Franzosen verhaftet und gefoltert wurde, schloss sie sich dem Widerstand an – kurz bevor sie selbst von der französischen Armee abgeholt werden sollte. Schon bald erkannte sie, dass die algerischen Widerstandskämpfer kaum besser waren als die Franzosen – insbesondere wenn es um Frauen ging.
Manche Revolutionäre sind gleicher als andere
Als erstes forderte man sie zu einem Jungfräulichkeitstest auf, was sie jedoch ablehnte. Auch bei den Aufständischen wurden Frauen weiterhin dazu verpflichtet, den Männern zu dienen und niedrige Arbeiten zu verrichten. Den Männern ging es um die Macht und darum, sich in die Geschichte einzuschreiben: Für die tragende Rolle der Frauen im Widerstand war kein Platz vorgesehen. Als man eine ihrer Freundinnen tötete, hatte die Mujahida genug und floh.
Bei ihrer Pilgerreise durch Algerien lernt Beatrice eine Französin kennen, die nach dem Krieg in Algerien blieb, weil sie hier ihre Heimat gefunden hatte. Sie ist eine der letzten Widerstandskämpferinnen. Ihre Geschichte berührt den Leser ganz besonders. Bei einem Schusswechsel mit französischen Soldaten wurde die Frau verletzt und zunächst medizinisch versorgt; allerdings nicht aus Barmherzigkeit, sondern um danach unter Folter Informationen von ihr zu erpressen. Ein Soldat erbarmt sich ihrer und schafft es, einen Arzt zu überzeugen, sie ins Krankenhaus einzuliefern.
Normalerweise erwartet man von einer Graphic Novel keine Lehrstunde in Geschichte oder Aufklärung historischer Sachverhalte. Doch in diesem Fall gelingt Swann Meralli mit seinen Texten und Zac Deloupy mit seinen Zeichnungen beides. Zum einen vermitteln sie uns eine vorurteilsfreie Sicht auf den Konflikt aus der Perspektive von Frauen, die ihn überlebt haben. Die Autoren scheuen nicht davor zurück, über die Gräueltaten zu sprechen, die beide Seiten in einem Krieg begangen haben, der heute immer noch als einer der brutalsten Revolutionskriege des 20. Jahrhunderts gilt.
Eindringliche Bilder von Illustrator Zac Deloupy
Graphic Novels leben von der Verbindung von Wort und Bild. So ist es auch hier. Bisweilen erzählen die Bilder sogar eine Geschichte für sich. Hier zeigen sich die künstlerischen Qualitäten des Zeichners, Bloggers und Illustrators Zac Deloupy. Seine Bilder sind ebenso eindringlich wie eindrucksvoll. Wir erkennen in ihnen die Verzweiflung, den Hass, den Schmerz, aber auch die Menschlichkeit, die diese Frauen erfahren haben.
Einige der dargestellten Szenen sind von einer Deutlichkeit, die sensible Leser verstören könnte. Doch die Handlung spielt nun einmal in einer dunklen Zeit, weshalb die Entscheidung berechtigt ist, sie auch in ihren Auswüchsen zu zeigen, ohne Überflüssiges hinzuzufügen.
Den Autoren ist offenbar daran gelegen, die Freiheitskämpferinnen nicht als Opfer darzustellen, die ihr Schicksal passiv erduldet haben. Diese Frauen handelten aus Überzeugung und in der Hoffnung auf eine bessere Welt. Denn für viel zu viele Akteure ging es bei der Revolution weniger um Befreiung als vielmehr darum Macht zu erlangen. Für die Autoren ist klar, dass Frauen im Gegensatz zu den Männern länger an ihren Idealen festhielten.
Algériennes von Swann Meralli und Zac Deloupy mag manche Leute verärgern: Es zeichnet kein Schwarzweißbild des algerischen Unabhängigkeitskriegs von den Guten auf der einen und den Bösen auf der anderen Seite. Aber das Werk dürfte eine der getreuesten Darstellungen dieses Krieges sein, die man seit langem gelesen bzw. gesehen hat.
Diese Graphic Novel ist definitiv keine Lektüre für ein jüngeres Publikum. Doch sie ist ein brillantes Beispiel dafür, wie eine Graphic Novel eine Geschichte bisweilen wirkungsvoller erzählen kann als reine Prosa.
© Qantara.de 2021
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers
Swann Meralli ist Autor von "L'Homme“, mit Illustrationen von Ulric Stahl; "Fermons les yeux“, mit Illustrationen von Laura Deo; und der Serie "Le petit livre qui dit non!“, mit Illustrationen von Carole Crouzet. Zeichner Zac Deloupy veröffentlichte mit "Jane Deuxard“ (Pseudonym eines Journalistenpaars) den mit Preisen ausgezeichneten Comic "Liebe auf Iranisch“ (fr. "Love story à l‘iranienne“) und mit Sandrine Saint-Marc die Graphic Novel "Pour la peau“.